Was hat uns diese Krise gelehrt? Arbeitende Menschen sind so viel mehr als lediglich „Ressourcen“.

Die Pflege von Kranken, das Liefern von Lebensmitteln, Medikamenten und anderen lebensnotwenigen Gütern, die Beseitigung unseres Abfalls, das Auffüllen von Regalen und das Kassieren in unseren Lebensmittelgeschäften – die Menschen, die das Leben durch die COVID-19-Pandemie hindurch am Laufen gehalten haben, sind der lebende Beweis dafür, dass Arbeit nicht auf ein bloßes Wirtschaftsgut reduziert werden kann.

Die menschliche Gesundheit und die Versorgung der Schwächsten kann nicht allein durch Marktkräfte geregelt werden. Würden wir diese Dinge allein dem Markt überlassen, liefen wir Gefahr, die Ungleichheit so weit zu verschärfen, dass wir das Leben der am wenigsten Begünstigten einbüßen würden. Wie lässt sich diese unakzeptable Situation vermeiden? Durch die Beteiligung der Arbeitnehmer*Innen an Entscheidungen, die ihr Leben und ihre Zukunft am Arbeitsplatz betreffen – durch die Demokratisierung der Unternehmen. Indem man die Arbeit entkommodifiziert und indem man kollektiv eine sichere Anstellung für alle garantiert. Angesichts der großen Gefahr dieser Pandemie und des Zusammenbruchs der Umwelt, würde uns die Durchführung von strategischen Veränderungen ermöglichen, die Würde aller Bürger*Innen sicher zu stellen und gleichzeitig die kollektive Kraft und Anstrengung zu bündeln, die wir brauchen, um unser gemeinsames Leben auf diesem Planeten zu erhalten.

Warum demokratisieren?

Jeden Morgen stehen Männer und Frauen auf, um diejenigen unter uns zu versorgen, die in der Lage sind, unter Quarantäne zu bleiben. Sie halten die Nacht hindurch Wache. Die Würde ihrer Arbeit erfordert keine weitere Erklärung als die kurz gefasste einfache Umschreibung „unverzichtbare/systemrelevante Arbeitskraft“. Diese Umschreibung enthüllt ebenfalls eine Tatsache, die der Kapitalismus immer versucht hat, mit einem anderen Begriff zu vertuschen: „Human Ressource“. Der Mensch ist nicht einfach eine Ressource unter vielen. Ohne Arbeiter*Innen gäbe es keine Produktion, keine Dienstleistungen und überhaupt keine Unternehmen.

Jeden Morgen stehen Männer und Frauen unter Quarantäne in ihren Häusern auf, um aus der Ferne die Aufgaben der Organisation, für die sie arbeiten, zu erfüllen. Sie arbeiten bis in die Nacht hinein. Sie beweisen denjenigen, die glauben, dass man den Angestellten nicht trauen kann ihre Arbeit ohne Aufsicht zu erledigen, die glauben, dass die Arbeiter Überwachung und externe Disziplin benötigen, das Gegenteil. Sie veranschaulichen Tag und Nacht, dass die Arbeitnehmer*Innen nicht nur ein Akteur unter vielen sind: Sie sind der Schlüssel zum Erfolg ihrer Arbeitgeber. Sie sind der Kern des Unternehmens, aber dennoch sind sie meist von der Beteiligung an der Leitung des Unternehmens ausgeschlossen – ein Recht, das von Kapitalanleger*Innen monopolisiert wird.

Auf die Frage, wie Unternehmen und die Gesellschaft als Ganzes die Beiträge ihrer Mitarbeiter*Innen in Krisenzeiten anerkennen könnten, ist Demokratie die Antwort. Wir müssen zweifellos die gähnende Kluft der Einkommensungleichheit schließen und die Einkommensuntergrenze anheben, aber das allein reicht nicht aus.

Nach den beiden Weltkriegen trug der unbestreitbare Beitrag der Frauen zur Gesellschaft dazu bei, ihnen das Wahlrecht zu sichern. Ebenso ist es an der Zeit, den Arbeitnehmer*Innen ein Mitbestimmungsrecht zu geben.

In Europa gibt es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Vertretung von Arbeiterinteressen am Arbeitsplatz durch die Betriebsräte. Diese Vertretungsorgane haben jedoch bestenfalls eine schwache Stimme in der Unternehmensleitung und sind den Entscheidungen der Anteilseigner*Innen und Geschäftsführer*Innen untergeordnet.

Sie waren nicht in der Lage, die unerbittliche Dynamik der eigennützigen Kapitalakkumulation zu stoppen oder auch nur zu verlangsamen, die immer stärker zur Zerstörung unserer Umwelt beiträgt.

Diesen Organen sollten ähnliche Rechte wie dem Vorstand eingeräumt werden. Dazu könnte eingeführt werden, dass die Unternehmensleitung die Zustimmung einer doppelten Mehrheit erhalten muss, von sowohl Arbeitnehmer*Innen, als auch von Anteilseigner*Innen. In Deutschland, den Niederlanden und Skandinavien waren die verschiedenen Formen der Mitbestimmung, die nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurden, ein entscheidender Schritt, um den Arbeitnehmer*Innen eine Stimme zu geben. Diese reichen jedoch immer noch nicht aus, um eine wirkliche Bürgerschaft in den Unternehmen zu schaffen.

Sogar in den Vereinigten Staaten, wo die gewerkschaftliche Organisierung von Arbeitnehmer*Innen und die Gewerkschaftsrechte erheblich unterdrückt wurden, wird nun zunehmend gefordert Arbeitnehmer*Innen das Recht einzuräumen, Vertreter*Innen mit einer Übermehrheit in die Ausschüsse zu wählen.  Anliegen wie die Wahl eines Geschäftsführers, die Festlegung wichtiger Strategien und die Gewinnverteilung sind zu wichtig, um sie den Anteilseigner*Innen allein zu überlassen. Eine persönliche Investition in die Arbeitskraft, also in Geist und Körper, in die Gesundheit – in das eigene Leben – sollte mit dem kollektiven Recht einhergehen, solche Entscheidungen zu bestätigen oder ein Veto einzulegen.

Warum entkommodifizieren?

Diese Krise zeigt, dass Arbeit nicht als Ware behandelt werden darf und dass die Marktmechanismen allein nicht die Entscheidungen treffen können, die unsere Gemeinschaft am stärksten betreffen. Seit Jahren unterliegen die Arbeitsplätze und das Angebot im Gesundheitssektor dem Leitprinzip der Rentabilität. Heute zeigt die Pandemie, wie sehr uns dieses Prinzip geblendet hat. Bestimmte strategische und kollektive Bedürfnisse müssen gegen solche Überlegungen immun gemacht werden. Die weltweit steigende Zahl der Todesopfer ist eine schreckliche Mahnung dafür, dass einige Dinge niemals als Ware behandelt werden dürfen. Diejenigen, die weiterhin das Gegenteil behaupten, gefährden uns mit ihrer schädlichen Ideologie. Rentabilität ist ein untragbarer Maßstab, wenn es um unsere Gesundheit und unser Leben auf diesem Planeten geht.

Arbeit zu entkommodifizieren bedeutet, bestimmte Sektoren vor den Gesetzen des so genannten „freien Marktes“ zu schützen und es bedeutet auch, sicherzustellen, dass alle Menschen Zugang zu Arbeit und der damit verbundenen Würde haben. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, besteht in der Schaffung einer Arbeitsplatzgarantie. Im Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist verankert, dass jeder das Recht auf Arbeit hat.

Eine Arbeitsplatzgarantie würde nicht nur jedem Bürger Zugang zu einer Arbeitsstelle, die ihm ein Leben in Würde ermöglicht, bieten, sie würde auch unsere kollektive Fähigkeit, die vielen drängenden sozialen und ökologischen Herausforderungen zu bewältigen, entscheidend stärken. Eine Arbeitsplatzgarantie würde es den Regierungen ermöglichen, über lokale Gemeinschaften hinweg, menschenwürdige Arbeit zu leisten und gleichzeitig zu den immensen Anstrengungen im Kampf gegen den Zusammenbruch der Umwelt beizutragen. Überall auf der Welt, während die Arbeitslosigkeit in die Höhe schießt, können Arbeitsplatzgarantieprogramme eine entscheidende Rolle bei der Sicherung der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Stabilität unserer demokratischen Gesellschaften spielen. (VAR. EUROP) Die Europäische Union muss ein solches Projekt in ihren Green Deal aufnehmen. Eine Überprüfung der Mission der Europäischen Zentralbank, damit sie dieses Programm, das für unser Überleben notwendig ist, finanzieren kann, würde ihm einen legitimen Platz im Leben jedes einzelnen Bürgers der EU einräumen. Als antizyklische Lösung für die explosive Arbeitslosigkeit, die sich abzeichnet, wird dieses Programm einen entscheidenden Beitrag zum Wohlstand der EU leisten.

Umweltsanierung: Wir sollten jetzt nicht mit der gleichen Unschuld reagieren wie im Jahr 2008, als wir auf die Wirtschaftskrise mit einer bedingungslosen Rettungsaktion reagierten, die die Staatsverschuldung in die Höhe trieb, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Wenn unsere Regierung in der gegenwärtigen Krise einspringt, um Unternehmen zu retten, dann müssen auch Unternehmen eingreifen und die allgemeinen Grundbedingungen der Demokratie erfüllen. Im Namen der demokratischen Gesellschaften, denen sie dienen und die sie ausmachen, im Namen ihrer Verantwortung, unser Überleben auf diesem Planeten zu sichern, müssen unsere Regierungen ihre Hilfe für Unternehmen von bestimmten Verhaltensänderungen abhängig machen. Zusätzlich zur Einhaltung strenger Umweltnormen müssen die Unternehmen bestimmte Bedingungen einer demokratischen internen Leitung erfüllen.

Ein erfolgreicher Übergang von Umweltzerstörung zu Umweltsanierung und Erneuerung wird am besten von demokratisch geführten Unternehmen angeführt, in denen die Stimmen derjenigen, die ihre Arbeitskraft investieren, bei strategischen Entscheidungen das gleiche Gewicht haben wie die Stimmen derjenigen, die ihr Kapital investieren. Wir hatten mehr als genug Zeit, um zu sehen was passiert, wenn Arbeit, der Planet und Kapitalgewinne unter dem gegenwärtigen System in die Waagschale geworfen werden: Arbeit und der Planet verlieren immer.

Dank der Forschung der Fakultät für Ingenieurwesen der Universität Cambridge (Cullen, Allwood, and Borgstein, Envir. Sci. & Tech. 2011 45, 1711-1718) wissen wir, dass „erreichbare Entwurfsänderungen“ („achievable design changes“) den globalen Energieverbrauch um 73% senken könnten. Diese Änderungen sind jedoch sehr arbeitsintensiv und erfordern Entscheidungen, die auf kurze Sicht oft kostspieliger sind. Warum sollten in einer Welt, in der Energie nicht viel kostet und solange Firmen so geführt werden, dass sie versuchen, den Gewinn für ihre Investoren zu maximieren Änderungen vorgenommen werden? Trotz der Herausforderungen dieses Übergangs haben bestimmte sozial engagierte oder kooperativ geführte Unternehmen – die hybride Ziele verfolgen, bei denen finanzielle, soziale und ökologische Erwägungen berücksichtigt werden und die demokratische interne Prozesse entwickeln – bereits das Potenzial einer positiven Wirkungsweise gezeigt.

Machen wir uns nicht weiter etwas vor: auf sich allein gestellt, werden die meisten Kapitalanleger sich weder um die Würde der Arbeiter kümmern, noch werden sie den Kampf gegen die Umweltkatastrophe führen. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, nämlich die Demokratisierung von Unternehmen; die Entkommodifizierung von Arbeit und die Sichtweise zu ändern und Menschen nicht weiter als Ressourcen zu betrachten, damit wir uns gemeinsam auf die Erhaltung des Lebens auf diesem Planeten konzentrieren können.

Unterschreibe online: https://framaforms.org/work-democratize-decommodify-remediate-1588425561

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Susanne Grönsfeld vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


Die folgenden Wissenschaftler haben bereits unterzeichnet:

Elisabeth Anderson (University of Michigan)
Albena Azmanova (University of Kent)
Adelle Blackett (McGill University)
Julie Battilana (Harvard University)
Isabelle Berrebi-Hoffmann (CNRS- Cnam, Paris)
Julia Cagé (Sciences Po-Paris)
Bea Cantillon (University of Antwerpen)
Joshua Cohen (Apple University, University of California, Berkeley)
Olivier De Schutter, (University of Louvain, UN Special Rapporteur on extreme poverty and
human rights)
Isabelle Ferreras (FNRS-University of Louvain-Harvard LWP)
Rainer Forst (University of Frankfurt)
Nancy Fraser (The New School for Social Research, NYC)
Sakiko Fukuda-Parr (The New School for Social Research, NYC)
James K. Galbraith (The University of Texas-Austin)
Peter Hall (Harvard University)
Lisa Herzog (University of Groningen)
Axel Honneth (Columbia University)
Eva Illouz (EHESS, Paris)
Tim Jackson (University of Surrey-CUSP)
Rahel Jaeggi (Humboldt Universität Berlin)
Alison Jaggar (University of Birmingham, UK-University of Colorado at Boulder)
Serene J. Khader (CUNY Graduate Center)
Sara Lafuente Hernandez (University of Brussels-ETUI)
Auriane Lamine (Université de Louvain)
Hélène Landemore (Yale University)
Annabelle Lever (Sciences Po-Paris)
Isabelle Martin (University of Montréal)
Dominique Méda (University of Paris Dauphine-PSL-Irisso)
Jan-Werner Müller (Princeton University)
Gregor Murray (University of Montréal)
Susan Neiman (Einstein Forum)
Serena Olsaretti (ICREA-Universitat Pompeu Fabra)
Thomas Piketty (EHESS-Paris School of Economics)
Katharina Pistor (Columbia University)
Valeria Pulignano (University of Leuven)
Miranda Richmond Mouillot
Ingrid Robeyns (Utrecht University)
Dani Rodrik (Harvard University)
Miriam Ronzoni (University of Manchester)
Benjamin Sachs (Harvard University)
Debra Satz (Stanford University)
Sarah Song (University of California, Berkeley)
Pavlina Tcherneva (Bard College-Levy Institute)
Françoise Tulkens (University of Louvain, European Courts of Human Rights 1998-2012)
Elaine Unterhalter (University College London)
Melanie Walker (University of the Free State, South Africa)
Lea Ypi (London School of Economics)
Min Zhang (Université Paris VIII)
Bénédicte Zimmermann (EHESS/Wissenschaftskolleg-Berlin)

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