Antonis Broumas (AB) aus Griechenland ist ein investigativer Jurist und Aktivist, der hauptsächlich damit beschäftigt ist, Brücken zwischen Gesetz, Technologie und Gesellschaft zu bauen. Er nimmt an sozialen Organisationen in Griechenland teil, die Autonomie und die Bürger_innen unterstützen. Broumas war vom 24. Bis 28. August von der Rosa Luxemburg Stiftung in Quito eingeladen. Pressenza (P) hatte die Möglichkeit, ihn zu interviewen und wir wollen mit unseren Leser_innen seine Reflektionen und Standpunkte über die Situation in Griechenland teilen.
P: Lass‘ uns zur Nacht des Referendums und den Tagen danach zurückkehren! Mit solch‘ großer Unterstützung für ein Nein, warum, denkst Du, hat Tsipras sich entschieden, den Willen der Bürger_innen zu ignorieren?
AB: Tsipras und die griechische Regierung waren einer Erpressung ausgesetzt, die sechs Monate andauerte, seit der Wahl der Regierung im Januar bis zur Nacht, als er den Gläubigern unterlag. In Wirklichkeit waren die Verhandlungen überhaupt keine Verhandlungen, sondern eher ein Nimm-oder-Lass-es Ultimatum und das Ergebnis war das Resultat einer Erpressung.
Daher würde ich keinesfalls das Wort “ignorieren” gebrauchen und sagen, Tsipras habe den Willen des Volkes “ignoriert”. Eigentlich wurde er dazu gezwungen, die entgegengesetzte Entscheidung zu treffen und wir sollten verstehen, warum.
Wir leben in Zeiten, in denen das Kapital eine Art Macht bekommen hat, welche besser definiert werden kann als strukturelle Macht. Marktinstitutionen und transnationale Institutionen, die zugunsten des Interesses des Kapitals geschaffen wurden, brauchen keine Kanonenboote mehr zu schicken, um Regierungen unter Druck zu setzen. Sie nutzen andere Werkzeuge, welche hauptsächlich finanzieller Art sind.
Daher, wenn Regierungen heutzutage entscheiden, dass sie Politik nach dem Willen des Volkes und zugunsten der unterdrückten Klassen machen wollen, so haben sie das Risiko, entweder andere Probleme zu bekommen, so wie hohe Arbeitslosigkeit oder den Druck von Finanzinstitutionen oder von Kapitalisten durch öffentliche Schulden. Dies ist ein Beispiel, bei welchem wegen der neoliberalen Globalisierung die Freiheit der Regierungen und Nationalstaaten, zu handeln, stark eingeschränkt worden ist im Vergleich zu früheren Zeiten.
Aber im Falle Griechenlands ist diese Art struktureller Macht sogar noch absoluter.
P: Warum?
AB: Griechenland ist ein Mitglied der EU und hat einen großen Teil seiner nationalen Macht an die EU abgegeben. Es hat diese Macht übertragen an die transnationalen Institutionen der EU. Und die wichtigste dieser Macht ist die Währungssouveränität und auch, im Falle Griechenlands, die Souveränität, was die Schulden betrifft.
Ein letzter Punkt: Schulden sind nicht Teil der strukturellen Macht. Diese strukturelle Macht existiert bereits, aber Schulden sind eines ihrer Werkzeuge, vielleicht ihr mächtigstes, um Druck auf nationale Regierungen auszuüben. In den letzten Jahren, den letzten Jahrzehnten, hat sich die Situation der Überschuldung verschlimmert, weil die Nationalstaaten keine Steuern aus dem Kapital einziehen können wie früher. Daher müssen sie Steuern von den niedrigeren Klassen einsammeln, die in hohem Maße ihre ökonomische Kraft verloren haben. Daher versuchen die Staaten, ihr ökonomisches Problem mit Schulden zu lösen.
P: Warum können die Regierungen keine Steuern nehmen vom Großkapital?
AB: Das Hindernis ist der Prozess der neoliberalen Globalisierung, welche die Märkte geöffnet hat und dem Kapital die Fähigkeit gegeben hat, sich weltweit sehr viel leichter zu bewegen. Daher konkurrieren die Staaten miteinander um die besten Voraussetzungen für das Kapital, um Investitionen anzulocken. Sie konkurrieren darum, jede Art Hindernis zu entfernen, damit das Kapital akkumulieren kann.
P: Eine der Alternativen wäre, aus der Eurozone auszuscheiden. Alle Medien wiederholen, dass der Grexit ein Disaster wäre, aber wir wissen nicht wirklich, warum es ein Disaster wäre. Wir wissen es nicht und wir wissen auch nicht, ob sich die Griechen der Gründe bewusst sind?
AB: Es gibt zwei Strategien, zwischen denen ein subversiver, Machtblock des Volkes in dieser aktuellen Lage wählen kann.
Die erste ist eher moderat. Wir bleiben in der Eurozone oder wir verlassen die Eurozone, aber bleiben in der EU und wir versuchen, die Machtbeziehungen der EU auf der transnationalen Ebene zu verändern. Die Erfahrung der letzten sechs Monate und der letzten zwei Jahre haben gezeigt, dass die Zwangsjacke der EU einen innewohnend neoliberalen Rahmen hat. Dieser institutionalisierte Neoliberalismus lässt keinen signifikanten Platz für fortschrittliche, linke, tranformative Politik. Aber diese Strategie hat einen Vorteil: sie ist leichter und weniger riskant für das Volk und für die Regierung.
Ich glaube nicht an eine Kompromisslösung – den Euro verlassen und in der EU verbleiben – weil es die negativen Resultate beider Welten kombiniert. Du hättest Deine nationale Währung, aber wieder mit den neoliberalen Restrukturierungsprogrammen.
Die zweite Möglichkeit des Machtblockes des Volkes ist, den Euro zu verlassen, die EU zu verlassen und die nationale Souveränität zurückzugewinnen. Wenn eine linke Regierung an der Macht ist, hat dies den Vorteil, dass es mit dem Willen des Volkes übereinstimmt und mit gewissen transformativen Zielen für die Gesellschaft und die Demokratie.
Das hauptsächliche Problem dieser Strategie ist, dass die negativen Machtbeziehungen, die in der EU existieren, sich nicht ändern, wenn Du ausserhalb der EU bist. Sie bleiben mehr oder weniger dieselben. Daher hast Du mehr Freiheiten, nationale Gesetze zu implementieren, aber irgendwie musst Du Schwierigkeiten lösen wie die nationale Integrität und die Vermeidung von Krieg mit der Türkei, in diesem Fall, welche bereit ist, ihren Vorteil aus dieser Situation zu ziehen.
Das zweite Problem ist das Problem der Restrukturierung der Schulden, weil Du mit Deinen externen Gläubigern ein Problem bekommst und einen großen Schuldenschnitt brauchst.
Das dritte Problem ist, dass Du eine Möglichkeit finden musst, um Deine nationale Währung zu stützen und Dein nationales Finanzsystem wird nationalisiert werden. Es wird nicht unter Kontrolle der EU sein, aber es würde immernoch Unterstützung brauchen, irgendwie.
Und das vierte Problem ist, dass Du auf dem ersten, oberflächlichen Blick die Möglichkeit verlierst, die Machtbeziehungen auf transnationaler Ebene zu verändern, welches die Ebene ist, auf welcher sich Machtpolitik heutzutage abspielt. Das tut sie nicht auf der Ebene des Nationalstaates.
In jedem Fall ist die zweite Möglichkeit eine radikale Wahl und wenn Du diese auswählst und wenn Du eine linke Regierung bist, dann musst Du wirklich radikale Gesetze einführen.
P: Findet diese Debatte tatsächlich auch unter den Menschen in Griechenland statt oder passiert dies nur unter Experten?
AB: Das ist der Kern dessen, was tatsächlich in Griechenland debattiert wird, vielleicht jedoch nicht in ganz so in diesem Ausmaß, in diesem Detail.
Ich habe meine Wurzeln in den griechischen Basisbewegungen und unsere Sichtweise ist die der Bedürfnisse der Menschen sowie die einer radikalen Demokratie und dort verläuft auch unsere Grenzlinie, wir gestalten Politik im Hinblick auf den Schutz der Umwelt und der Natur.
Wir werden niemals den Plan der Gegner akzeptieren und wir werden immer unsere eigenen Konzepte ausarbeiten, um einen Weg aus der Krise zu finden; dies ist unser Verständnis von sozialer Autonomie und unsere Art, lokale Politik, also nahe an den Menschen, zu betreiben.
Es ist also gleichgültig, wie schwierig eine Situation ist, wir werden diesen Werten immer treu bleiben, um aus der Krise herauszukommen. Es nützt nichts, aktuell gebräuchliche Strukturen von Dominanz in unsere Politik integrieren zu wollen und dadurch die Krise zu vertiefen. Wir müssen transformative Politik betreiben.
Und noch etwas. Dies ist genau das Vermächtnis der 62% Nein-Stimmen des griechischen Volkes im Referendum. Zum ersten Mal seit dem griechischen Bürgerkrieg gab es zwei klare Machtblöcke, die miteinander im Konflikt standen: die Bourgeoisie und unseren Block.
Die Sachlage in unserem Fall ist sehr schwierig, weil Griechenland den Schwachpunkt der EU darstellt, aber genau deshalb muss es den Mut finden, die EU zu verändern, entweder indem es bleibt und radikale politische Veränderungen innerhalb der EU ermöglicht, oder indem es mit der EU bricht und dadurch ihren Zerfall herbeiführt.
P: Eine neu abgespaltene Partei, die Volkseinheit, hofft nun, aus der Unzufriedenheit mit Alexis Tsipras Kapital schlagen zu können. Wird Griechenland in bedeutendem Ausmaß für eine Partei stimmen, die offen den Grexit propagiert?
AB: Ich würde nicht zu viel auf Wahlpolitik in Griechenland geben. Ich glaube, dass das Versprechen für die Zukunft Griechenlands in den Basisbewegungen liegt. Wir treten in einen neuen Zyklus von schwierigen Zeiten in Griechenland ein, wo soziale Bewegungen ihre Kraft verloren haben, weil ihre Leute in die repräsentative Politik gegangen sind und Syriza nun wieder in die Vorderfront griechischer Politik zurückkehren wird.
Dennoch einige wichtige Punkte zur Volkseinheit.
Die Volkseinheit befindet sich derzeit in einer Phase des Wandels. Sie hat noch keinen festen Charakter geformt. Auf jeden Fall aber gehören die Volkseinheit und die außerparlamentarische Linke zu diesem Wahlblock, der für ein Brechen mit der Eurozone und der EU steht, und sie sind Teil der alten Linken. Das bedeutet, dass sie nicht mit den Basisbewegungen zusammenarbeiten und sie auch nicht repräsentieren, sie sind eine klassische Art von politischer Avantgarde, die für eine Gesellschaftspolitik von oben nach unten steht.
Dadurch entstehen zwei Probleme. Das erste ist, dass ihre Vorschläge für eine Erneuerung der Gesellschaft die Dynamik der neuen sozialen Bewegungen nicht miteinbeziehen. Syriza war da näher an den sozialen Bewegungen dran. Aber Syriza existiert nicht mehr in dem Sinne, dass Aktivisten aus sozialen Bewegungen in ihren Strukturen eingebettet waren; nicht dass sie die Partei bedeutend hätten beeinflussen können.
Das zweite Problem ist ihre Hartnäckigkeit, an den von oben nach unten gerichteten Plänen für die Gesellschaft festzuhalten, die sie von den grundlegenden sozialen Bedürfnissen und Interessen der Gesellschaft sowie von einer transformativen Politik entfernt, so dass am Ende in ihren Vorschlägen nur der Staat, der Staat und nochmal der Staat die Lösung ist. Der Staat wird alles richten.
Anstatt den Leuten eine Vision für eine Zukunft einer besseren Gesellschaft zu bieten, gehen sie mit falschen Streitfragen in die Wahlen, die nicht die geringste Bedeutung für das tägliche Leben der unterdrückten Klassen haben, wie zum Beispiel: Euro oder Drachme, Memorandum oder kein Memorandum, wir sind gegen Memoranden, wir sind für die Drachme. Und diese Ausrichtung wird ihnen höchstens zusätzliche 5 % an den Urnen bringen.
P: Es ist also nicht der Staat, nicht die Regierung, sondern es sind die sozialen Bewegungen. Was gibt Ihnen die Gewissheit, dass in ihnen die Möglichkeit zum Wandel liegt? Was macht sie so kraftvoll? Was habe sie Besonderes?
AB: Ich denke, die Erfahrung zeigt, dass Wahlpolitik ein Spiegel dessen ist, was an der sozialen Basis passiert. Wenn wir also mehr transformative, progressive Politik in Griechenland implementiert sehen, dann wird dies aufgrund der Kraft der sozialen Bewegungen sein.
Aber diese Zukunft ist nicht gewiss. Die griechischen sozialen Bewegungen haben während der Krise neue Formen des Kampfes entwickelt. Davon gibt es zweierlei: die erste war eine Verteidigung der Gesellschaft, inklusive Bewegungen wie der Arbeiterbewegung. Wir hatten über 30 Generalstreiks in den letzten fünf Jahren und über 20 Massendemonstrationen mit über 100.000 Menschen.
Dies beinhaltet auch Bewegungen zur Zahlungsverweigerung: ziviler Ungehorsam, keine Steuern oder Gebühren für die Autobahnen zu zahlen, selbstorganisierte lokale Gruppen, die Familien wieder an die Elektrizität anschlossen, die wegen fehlenden Zahlungen abgeschaltet war, horizontale Solidaritätsnetzwerke, um notwendige Lebensmittel für Bedürftige zur Verfügung zu stellen.
Aber die zweite Form, die die griechischen Bewegungen akquiriert haben, ist die der Transformation. Dies beinhaltet Bewegungen zur Gesundheitsversorgung und Bildung durch horizontale selbstorganisierte Institutionen. Hierzu zählen auch die Vergemeinschaftung der öffentlichen Dienste wie die des griechischen öffentlichen Rundfunks und der öffentlichen Wasserversorgung von Thessaloniki.
Dazu gehören auch Solidarität, ökonomische Projekte und Projekte für den Tausch von Basisgütern, bei denen Zwischenhändler ausgeklammert wurden, sowie Bewegungen zum Schutz und zur Förderung von gemeinschaftlichen Gütern inklusive der Natur.
P: Haben diese griechischen sozialen Bewegungen in ihren Strategien auch ein Element der Vernetzung mit ähnlichen Bewegungen in anderen Ländern der EU oder darüber hinaus? Sehen sie sich als international?
AB: Sie sprechen da einen sehr wichtigen Punkt an. Es ist nicht nur das Kapital, das sich in Europa in der Krise befindet, und das mit Austerität gelöst wird. Die Bewegungen befinden sich ebenfalls in einer Krise und das ist die Herausforderung, sich auf europäischem Niveau zu konsolidieren.
Historisch als subversive Politik gesehen, waren diese Bewegungen immer für das Projekt EU, im Glauben, dass eine paneuropäische Arbeiterbewegung entstünde, die dem Kapital auf europäischem Niveau entgegentreten würde. Das ist eine Logik des Eurokommunismus.
Aber bis jetzt haben wir es nicht geschafft, diese Erwartungen zu erfüllen. Wir arbeiten daran. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Letzte Woche haben wir ein paneuropäisches Lager gegen Raubbau in Chalkidiki organisiert, wo eine Goldmine ausgebeutet wird.
Hunderte von Genossen aus ganz Europa waren gekommen, um den Kampf zu unterstützen. Es ist noch ein langer Weg, um diese Bewegungen auf europäischem Niveau zu konsolidieren. Aber wir können sagen, dass wichtige Prozesse im Gange sind, die in diese Richtung gehen.
Übersetzung aus dem Englischen Evelyn Rottengatter und Johanna Heuveling