Dr. phil. Milena Rampoldi: ProMosaik e.V. ist der Meinung, dass es einen Widerspruch zwischen der jüdischen Religion (dem Judentum) und ihren (bzw. seinen) ethischen Werten und dem Staat Israel gibt. Wie sehen Sie das und welche sind die Hauptaspekte des Widerspruchs zwischen der Ethik des Judentums und dem Staat Israel, wie er derzeitig gestaltet ist?

Prof. Jakov Rabkin: Trotz zahlreicher neuer Verbündeter befindet sich der Zionismus unter einem riesigen, internen Druck, da immer mehr Juden, in Israel und außerhalb, anfangen, die Weisheit der Erhaltung eines zionistischen Staates, der Diskriminierung verherrlicht und Gewalt schürt, in Frage zu stellen. Bisher ist es der ursprünglichen revolutionären Intoleranz des Zionismus nicht gelungen, diesen Druck durch strategische Anpassungen abzubauen: sie erhält die zionistische Orthodoxie in einer Zeit, in der die israelische Gesellschaft, die als Verkörperung des Zionismus gilt, schon lange ihre revolutionäre Beschaffenheit verloren hat und bürgerliche Werte und Konsumdenken begeistert aufgenommen hat. Ein harter Kern ergebener Siedler, von denen die meisten aus den nationalen religiösen Kreisen stammen, behalten ein wenig von ihrem revolutionären Streben und von der Kultur der Selbstaufopferung bei, obwohl sie auch viele der bürgerlichen Werte absorbiert haben, die sie des Öfteren eifrig anprangern.

Der Zionismus stellte eine Revolution dar. Wie jede Revolution verursachte er Gegenrevolutionen. Die Juden, die sich dem Zionismus widersetzten, umfassten eine ganze „Palette“: sie reichten vom Rabbiner S.R. Hirsch in Deutschland bis zum Hasidismus in Osteuropa, und von den angesehenen, marokkanischen Juden bis hin zu den amerikanischen Reformjuden. Der Widerstand gegen den Zionismus und die Behandlung der Palästinenser durch Israel basiert auf den grundlegenden jüdischen Prinzipien der Gerechtigkeit sowie der Vorsicht hinsichtlich der Aspekte, die sich auf den Messias und die Erlösung beziehen. Das klassische Prinzip von Hilllel fasst die Haltung zusammen, welche den Widerstand gegen den Zionismus inspiriert, der die Palästinenser enteignet, verjagt und diskriminiert hat: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora.“

Trotz des Entstehens eines mächtigen und wohlhabenden, modernen zionistischen Staates, hat sich der Widerstand gegen den Zionismus nicht in Luft aufgelöst. Dieser Gedanke findet sich im Titel der hebräischen Fassung meines Buches, das im Frühjahr 2014 in Israel erschien: Der jüdische Widerstand gegen den Zionismus: ein dauerhafter Kampf (www.pardes.co.il/book.asp?pID=1192)

ProMosaik e.V.: Welche bedeutenden Israel-kritischen Kräfte sehen Sie in Ihren jüdischen Mitbürgern, um im heutigen Israel zu den wahren jüdischen Werten zurückzukehren?

Prof. Rabkin: Obwohl viele Israelis eine Verschiebung ihrer politischen Haltungen von Links nach Rechts vollzogen haben, widersetzen sich wenige immer noch dem Militarismus und der Ungerechtigkeit. Einige Tage vor der Veröffentlichung meines Buches in Israel demonstrierte mehr als eine halbe Million orthodoxer Juden in Jerusalem gegen die Einberufung in das, was einige von ihnen „die zionistische Armee“ nannten. Der israelische Staat, der als Rebellion gegen die jüdische Tradition gegründet wurde, wurde nie auf der Grundlage der ethischen Grundlagen des Judentums regiert, und es wäre auch unzumutbar, dies in der nahen Zukunft zu erwarten.

Bild: Deutsche Welle

ProMosaik e.V.: Denken Sie, dass die jüdische Diaspora dabei helfen kann, den Israelisch-Palästinensischen Konflikt zu lösen?

Prof. Rabkin: Der politische Einfluss der Diaspora-Juden auf die israelische Politik ist verschwindend gering. Und dies ist ein gravierender Fehler, wenn nicht insgesamt eine antisemitische Enttäuschung, den Staat Israel als einen Vertreter der Juden oder des Judentums anzusehen. Das Beste, was die Diaspora-Juden tun können, ist die Tatsache zu betonen, dass Israel nicht in ihrem Namen handelt. Das ist sehr wichtig, denn Israel leitet seine Legitimität vom Anspruch ab, ein „jüdischer Staat zu sein“.

ProMosaik e.V.: Was möchten Sie den Bürgern von Gaza nach dem 50-Tage Krieg in diesem Sommer gerne sagen?

Prof. Rabkin: Ich bewundere ihre Widerstandskraft gegen die überwältigende  Militärmacht, die vollkommen straflos handelt. Ich möchte allen, die Verwandten und Freunde verloren haben, mein Beileid aussprechen.

ProMosaik e.V.: Wenn Sie das Judentum in 5 Worten beschreiben müssten, was würden Sie sagen sind die Hauptgrundlagen des Judentums?

Prof. Rabkin: Der oben angeführte Satz von Hillel.

ProMosaik e.V.: Könnten Sie uns kurz etwas über die Juden in Kanada berichten?

Prof. Rabkin: Die kanadischen Juden sind die viertgrößte jüdische Gemeinde der Welt, die zum größten Teil aus aschkenasischen Juden besteht. In Montreal findet sich auch eine wichtige sephardische Gemeinde, deren Mitglieder zum größten Teil aus Nordafrika stammen. Im Durchschnitt weisen die Juden einen besseren Bildungsstand auf und erhalten ein leicht höheres Einkommen als die anderen Kanadier. Es gibt ein solides Netzwerk gemeinschaftlicher Institutionen, welche die weniger Wohlhabenden und jüdischen und nicht-jüdischen Armen unterstützen.

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