Vor einem Jahr forderte die UN-Generalversammlung Israel auf, seine Besetzung der palästinensischen Gebiete innerhalb von zwölf Monaten zu beenden.

 

Von Medea Benjamin und Nicolas J. S. Davies

Die Generalversammlung stimmte mit 124 zu 14 Stimmen bei 43 Enthaltungen für eine starke Resolution, die nicht nur ein Ende der Besetzung innerhalb eines Jahres „forderte“, sondern auch alle Länder aufforderte, vom Handel mit israelischen Siedlungen und von Waffentransfers abzusehen, „bei denen der begründete Verdacht besteht, dass sie in den besetzten palästinensischen Gebieten eingesetzt werden könnten“.

Am 18. September 2024 trat die Generalversammlung zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen und berief sich dabei auf den Grundsatz „Vereint für den Frieden“, um zu handeln, wenn der UN-Sicherheitsrat versagt hat. Die Generalversammlung hatte den Internationalen Gerichtshof (IGH) gebeten, über die Rechtmäßigkeit der israelischen Besatzung und die sich daraus ergebenden rechtlichen Konsequenzen zu entscheiden. Die neue Resolution wurde durch das Urteil des Gerichtshofs vom 19. Juli 2024 ausgelöst, in dem die israelische Besatzung als unrechtmäßig eingestuft und ihre „so schnell als möglich zu erfolgende“ Beendigung gefordert wurde.

Ein Jahr später ist Israel keiner der Forderungen der 124 Staaten nachgekommen. Ganz im Gegenteil. Es hat seinen Völkermord im Gazastreifen eskalieren lassen, indem es diesen von fast allen Nahrungsmitteln, Medikamenten und humanitäre Hilfe abgeschnitten hat. Es führt unerbittliche Bombardierungen durch, weitet die Angriffe am Boden aus und vertreibt praktisch die gesamte Bevölkerung. Überall auf der Welt fordern die Menschen die Staats- und Regierungschefs sowie die Politiker dazu auf, alles zu tun, um diesen Holocaust zu beenden, bevor er noch weiter eskaliert.

Wenn sich die Staats- und Regierungschefs der Welt am 9. September in New York zur nächsten UN-Generalversammlung treffen, wie werden sie dann auf den eskalierenden Völkermord Israels und die andauernde Besetzung sowie Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland und in Jerusalem reagieren? Die Basis übt politischen Druck auf sie alle aus, damit sie den starken Worten in den Urteilen des Internationalen Gerichtshofs und den UN-Resolutionen Taten folgen lassen, um das zu beenden, was die große Mehrheit der Welt als den schamlosesten Völkermord unserer Zeit anerkennt.

Einige Länder haben bereits Maßnahmen ergriffen und den Handel mit Israel abgebrochen sowie Waffenverträge gekündigt. So hat die Türkei am 29. August einen totalen Handelsboykott angekündigt und ihren Luftraum für israelische Flugzeuge sowie ihre Häfen für israelische Schiffe gesperrt. Zwölf Mitglieder der Haager Gruppe, die gegründet wurde, um gegen die israelische Straflosigkeit vorzugehen, haben sich formell verpflichtet, Waffentransfers zu verbieten und militärbezogene Lieferungen in ihren Häfen zu blockieren. Schweden und die Niederlande haben die EU aufgefordert, Sanktionen gegen Israel zu verhängen, einschließlich der Aussetzung des Handelsabkommens zwischen der EU und Israel.

Die meisten der 124 Länder, die für ein Ende der Besatzung gestimmt haben, haben jedoch bisher kaum etwas unternommen, um diese Resolution durchzusetzen. Wenn sie dies jetzt nicht tun, werden sie nur Israels Vermutung bestätigen, dass sein korrupter Einfluss auf die US-Politik nach wie vor eine generelle Straffreiheit für systematische Kriegsverbrechen gewährleistet.

Als Reaktion auf diese unzumutbaren Zustände hat der UN-Vertreter Palästinas die Vereinten Nationen offiziell darum gebeten, eine internationale militärische Schutztruppe für den Gazastreifen zu genehmigen. Diese soll bei der Bereitstellung von humanitärer Hilfe helfen und die Zivilbevölkerung schützen. Dies wird auch von der größten Koalition palästinensischer Nichtregierungsorganisationen (PNGO) unterstützt, sowie von pro-palästinensische Gruppen und Politikern, darunter auch von dem irischen Präsident Michael D. Higgins. Es gibt eine wachsende globale Bewegung, die die UN-Generalversammlung auffordert, diesen Antrag in einer weiteren Dringlichkeitssondersitzung aufzugreifen, wenn sie diesen Monat zusammentritt. Das wäre in einem Fall wie diesem, in dem der Sicherheitsrat durch den Missbrauch des Vetorechts der USA handlungsunfähig geworden ist, durchaus im Rahmen der Befugnisse der Generalversammlung.

Unabhängig davon, ob diese Initiative für eine Schutztruppe Erfolg hat oder nicht, ist es eine Tatsache, dass die Regierungen der Welt bereits unzählige Möglichkeiten haben, Palästina zu unterstützen – sie müssen nur den politischen Willen zum Handeln aufbringen. Israel ist ein kleines Land, das auf Importe aus der ganzen Welt angewiesen ist. Viele seiner wichtigen Produkte kommen aus den unterschiedlichsten Quellen. Zwar liefern die Vereinigten Staaten 70 % seiner Waffenimporte, doch auch viele andere Länder liefern Waffen und wichtige Teile für seine höllische Kriegsmaschinerie. Die Abhängigkeit Israels von komplizierten internationalen Lieferketten ist das schwächste Glied in seiner Anmaßung, der Welt eine Nase zu drehen und ungestraft töten zu können.

Wenn die Länder, die bereits für ein Ende der Besatzung gestimmt haben, bereit sind, ihre Worte und Stimmen mit koordinierten Maßnahmen zu untermauern, können ein Handelsboykott, eine Deinvestitionskampagne und ein Waffenembargo unter Führung der UN enormen Druck auf Israel ausüben, damit es seinen Völkermord und die Aushungerung des Gazastreifens sowie die Besetzung Palästinas beendet. Wenn sich genügend Länder beteiligen, könnte Israels Position schnell unhaltbar werden.

Es ist eine Schande, dass die Regierungen der Welt nach zwei Jahren andauerndem Völkermord noch immer nicht gehandelt haben und ihre Bürger sie zum Handeln drängen müssen, behindert dabei von einem dichten Nebel aus Propaganda und Verdrehungen, während die Führungen zwar die richtigen Worte äußern, aber weiterhin die falschen Dinge tun.

Viele Menschen vergleichen die aktuelle Situation in Israel mit der Apartheid-Krise in Südafrika. Die Ähnlichkeit besteht nicht nur im Rassismus, sondern auch in der beschämenden Komplizenschaft der westlichen Länder bei den Menschenrechtsverletzungen sowie in der fehlenden Sorge um das Leben der Opfer. Es ist sicherlich kein Zufall, dass ausgerechnet die Vereinigten Staaten, die selbst eine Geschichte des Völkermords, der Sklaverei und der Apartheid aufweisen, als wichtigster diplomatischer Unterstützer und Lieferant militärischer Ausrüstung sowohl des südafrikanischen Apartheidregimes als auch Israels fungieren.

Es dauerte jedoch mehr als 30 Jahre – vom ersten UN-Waffenembargo und den Ölsanktionen im Jahr 1963 bis zur endgültigen Aufhebung der UN-Sanktionen im Jahr 1994 –, bis die Maßnahmen der Vereinten Nationen zum Sturz des Apartheidregimes in Südafrika beitrugen. Erst 1977 machte die UNO ihr Waffenembargo für alle Mitglieder verbindlich. Im Fall von Israel und Palästina kann die Welt nicht 30 Jahre warten, bis Maßnahmen Wirkung zeigen. Was bleibt von Palästina am Ende übrig, wenn die UNO dem israelischen Völkermord und den amerikanischen Bombenangriffen nur mit endlosen Gerichtsurteilen, Resolutionen und Erklärungen, aber nicht mit entschlossenem Handeln begegnen kann?

Eine Initiative, über die in der Generalversammlung debattiert und abgestimmt werden soll, wurde von Frankreich und Saudi-Arabien vorgeschlagen. Im Juli veranstalteten sie eine hochrangige UN-Konferenz über die „Friedliche Lösung der Palästina-Frage und die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung”. Die Agenda ist jedoch schwach und vermeidet jedwede energische Maßnahmen, um Israel zur Beendigung des Völkermords oder der Besatzung zu drängen.

Die ersten Schritte, die in der Erklärung gefordert werden, sind ein Waffenstillstand im Gazastreifen, die Wiederherstellung der Kontrolle der Palästinensischen Behörde über den Gazastreifen sowie die Entsendung einer internationalen militärischen „Stabilisierungstruppe”. Israel hat die ersten beiden Schritte jedoch bereits abgelehnt. Kritiker warnen zudem, dass eine Stabilisierungstruppe bedeuten würde, dass ausländische Truppen in den Gazastreifen entsandt würden – nicht, um die Palästinenser vor israelischen Bomben und Bulldozern zu schützen, sondern um sie zu überwachen, den Widerstand einzudämmen und um die israelischen Forderungen zu bestärken.

Außerdem enthält die Erklärung keinen Mechanismus zur Durchsetzung der Initiative. Stattdessen bietet sie nur Zuckerbrot – Versprechungen von Anerkennung, Handel und Waffengeschäften –, während Israel für die Fortsetzung seiner Verbrechen keinen Preis zu zahlen hat.

Zwar könnte die Erklärung den Weg dafür ebnen, dass sich weitere westliche Länder den 147 Ländern anschließen, die Palästina bereits als unabhängigen Staat anerkennen. Ohne konkreten Druck auf Israel, einem Waffenstillstand im Gazastreifen zuzustimmen und die Besetzung zu beenden, besteht jedoch die Gefahr, dass eine solche Anerkennung bestenfalls symbolisch ist – und im schlimmsten Fall Israel ermutigt, seine Kampagnen des Massenmords, der Siedlungserweiterung und der Annexion zu beschleunigen, bevor die Welt handeln kann.

Daher ist es dringend erforderlich, dass die Generalversammlung eine Dringlichkeitssondersitzung abhält, um über eine UN-Schutztruppe sowie über ein Waffenembargo, ein Handelsboykott und eine Rücknahme von Investitionen gegenüber Israel abzustimmen – geknüpft an die Forderung, dass der Völkermord in Gaza und die Besetzung der seit 1967 besetzten palästinensischen Gebiete beendet werden.

Das Waffenembargo und die wirtschaftlichen Maßnahmen gegen Israel sollten für alle UN-Mitglieder verbindlich sein, in vollem Umfang unterstützt durch das UN-Sekretariat, das hierfür Personal bereitstellen und diese Maßnahmen in Abstimmung mit allen UN-Mitgliedsstaaten organisieren und überwachen kann. China, der größte Bezieher israelischer Importe, und die Türkei, die vor der Einstellung des Handels mit Israel hierbei an dritter Stelle stand, sollten beide bereit sein, eine führende Rolle bei einem UN-Boykott und einem Waffenembargo zu übernehmen. Insgesamt betreibt die Europäische Union sogar noch mehr Handel mit Israel als China. Sie hat es versäumt, sich gegen den Völkermord zu positionieren. Eine starke Führung der UN könnte jedoch dabei helfen, die innere Spaltung Europas zu überwinden und dazu führen, dass sich Europa der Kampagne anschließt.

Die Rolle der Vereinigten Staaten in dieser Krise – sowohl unter der Regierung von Joe Biden als auch unter der von Donald Trump – besteht darin, Israels bei seinen Verbrechen zu unterstützen, unbegrenzt Waffen zu liefern, gegen jede Resolution des Sicherheitsrates ein Veto einzulegen und sich jedem internationalen Versuch zu widersetzen, das Gemetzel zu beenden. Selbst wenn sich aktuell die Mehrheit der Amerikaner auf die Seite der Palästinenser stellt und die militärische Unterstützung Israels durch die USA ablehnt, ist die Oligarchie, die Amerika regiert, genauso des Völkermordes schuldig wie Israel selbst. Wenn sich die Welt zusammenschließt, um sich Israels Verbrechen entgegenzustellen, muss sie sich auch der Realität stellen, dass Israel nicht allein handelt, sondern in Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika.

Aggressoren und Tyrannen setzen sich durch, indem sie ihre Feinde aufspalten und einen nach dem anderen ausschalten, wie es die Welt seit Jahrhunderten von den europäischen Kolonialmächten kennt und aktuell von den Vereinigten Staaten erlebt hat. Was jeder Aggressor oder Tyrann am meisten fürchtet, ist vereinte Opposition und Widerstand.

Israel und die USA üben derzeit enormen politischen Druck auf Länder und Institutionen aus, die Israel boykottieren, sanktionieren oder sich von ihm distanzieren. Ein Beispiel ist Norwegen, das Caterpillar aus seinem Staatsfonds entfernt hat, da das Unternehmen Bulldozer zur Zerstörung von Häusern in Palästina liefert. In einer Welt, die sich wirklich darüber einig ist, den Völkermord Israels zu beenden, würden die Vergeltungsdrohungen der USA und Israels diese beiden Länder mehr isolieren als diejenigen, gegen die sie sich richten.

Auf den letzten UN-Generalversammlungen wurde in vielen Reden beklagt, dass die UN ihren wichtigsten Zweck, nämlich Frieden und Sicherheit für alle zu gewährleisten, nicht erfüllen. Als Grund wurde das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder (P5) des Sicherheitsrates genannt, welches die UN daran hindert, die schwerwiegendsten Probleme der Welt anzugehen. Wenn sich die Welt in diesem Jahr zur UN-Generalversammlung trifft, um sich dem Holocaust unserer Zeit in Gaza zu stellen, könnte dies der Beginn einer wiedererstarkten und neu geeinten UN sein – einer UN, die endlich in der Lage ist, ihre Rolle beim Aufbau einer friedlichen, nachhaltigen und multipolaren Welt zu erfüllen.


Medea Benjamin und Nicolas J. S. Davies sind die Autoren von „War in Ukraine: Making Sense of a Senseless Conflict”, das kürzlich in einer neuen, aktualisierten und überarbeiteten Auflage bei OR Books erschienen ist.

Medea Benjamin ist die Mitbegründerin von CODEPINK for Peace und Autorin mehrerer Bücher, darunter „Inside Iran: The Real History and Politics of the Islamic Republic of Iran”.

Nicolas J. S. Davies ist ein unabhängiger Journalist, Rechercheur für CODEPINK und Autor von „Blood On Our Hands: The American Invasion and Destruction of Iraq”.

 

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Kornelia Henrichmann vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!