Gerade hat es aufgehört zu schneien. Das ist die schönste Zeit in der Stadt, wenn die Schneedecke noch unberührt ist und wir Fußgänger den Spuren der anderen folgen. Eingehüllt ins eisige Weiße durchqueren wir den kleinen Park unseres Viertels, um zum Eingang der U-Bahn zu gelangen. Dort steht eine kleine, warm eingepackte und lächelnde ältere Dame. Sie bietet eine durchsichtige Plastiktüte an, die einen Informationsflyer und eine Pfeife enthält, und sagt zu allen: „Schützen wir unsere Nachbarn vor ICE!” Der Klang ist derselbe – ICE –, aber er bezieht sich nicht auf gefährliche Eiszapfen, sondern auf etwas viel Tödlicheres: die Immigration and Customs Enforcement (ICE), die berüchtigte Einwanderungsbehörde, die seit Trumps Amtsantritt für Angst und Schrecken in den amerikanischen Städten sorgt.


Der Flyer ist ein regelrechtes Mini-Handbuch mit Anweisungen. Er erklärt, wie man einen ICE-Beamten erkennt und wie man sich verhalten soll. Am wichtigsten ist es, bereit zu sein, Informationen zu sammeln. Wie viele es sind. Was sie tun. Wohin und in welche Richtung sie sich bewegen. Wie sie gekleidet sind. Ob sie Sturmhauben und kugelsichere Westen tragen. Zeitpunkt der Sichtung. Welche Ausrüstung sie mit sich führen (Waffen, Handschellen, Schlagstöcke usw.). Wenn man in Sicherheit ist, das heisst wenn sie einen nicht sehen, sollten Fotos und Videos gemacht werden. Leiten Sie die gesammelten Daten schließlich an das Netzwerk des Viertels weiter (die Nummer der Hotline des Netzwerks ist angegeben).
Der Abschnitt über die Pfeife ist wirklich rührend und hätte einen Platz im Dadaismus-Museum verdient, gäbe es eines. Er erläutert zwei Codes.
Code Nummer 1: „bwii! bwii! bwii!” Wiederholtes Pfeifen bedeutet, dass der ICE in der Gegend gesichtet wurde und man wachsam sein sollte.
Code Nr. 2: „bwiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii !!! Ein lautes und anhaltendes Pfeifen bedeutet, dass der ICE eine Festnahme durchführt. Es herrscht höchste Alarmstufe und der Rechtsdienst ist bereit, aktiviert zu werden. Die Nummer ist natürlich im Handbuch angegeben.
Wie ich nehmen auch die anderen Passanten das Anti-ICE-Kit begeistert entgegen. Ich frage mich, ob wir jemals die Gelegenheit und die Gelassenheit haben werden, es zu benutzen. Ich weiß es nicht. Ich verhehle nicht, dass ich gerne dabei wäre, wenn es einer Gruppe von Bürgern, bewaffnet mit Trillerpfeifen, gelingt, die Schläger des ICE zu überlisten und ihre Nachbarn, Geschäfte und Straßen zu schützen. Denn das sind die Opfer des ICE: der freundliche Herr, der dich grüßt, während er das Laub zusammenharkt, die Dame, die die Haustreppen reinigt und netterweise dein Paket annimmt, während du im Urlaub bist, das Mädchen, das in deiner Lieblingsgaststätte bedient, der Junge, der dir in der Cocktailbar an der Ecke den perfekten Margarita mixt, der Junge, der dir deine Einkäufe nach Hause bringt, die Mutter des neuen Freundes deines Sohnes und so weiter – Männer, Frauen, Familien, die Millionen anderen gleichen und sich unter sie mischen; Menschen, die seit einem Jahr in Angst leben, als illegale Migranten entdeckt zu werden.
Mir ist bewusst, dass die Anti-Einwanderungspropaganda in Italien und anderswo behauptet, die Vereinigten Staaten seien aufgrund der Nachlässigkeit der Demokraten – die zwar nachlässig und träge sind, aber aus anderen Gründen – von Millionen Einwanderern überflutet worden, die selbstverständlich alle hässlich, schmutzig und böse sind. Und dass die Trump-Regierung endlich das tut, was auch wir tun sollten: Sie in ihre Heimat zurückschicken. Schade nur, dass dies nicht der Wahrheit entspricht, denn dies ist ihre Heimat. Viele der von der ICE Verfolgten leben seit dreißig oder vierzig Jahren dauerhaft in den Vereinigten Staaten. Sie arbeiten, verdienen Geld, zahlen Steuern, mieten Häuser, fahren Auto, besitzen Bankkonten und schicken ihre (amerikanischen) Kinder zur Schule. Verstehen Sie also, was es bedeutet, wenn die ältere Dame sagt: „Schützen wir unsere Nachbarn”?
Vielleicht fragen sich einige Leser:innen, warum diese Menschen sich nicht legal niederlassen. In Italien finden viele Illegale eine Arbeit mit Vertrag und beginnen einen mühsamen, langen und schwierigen Weg der Legalisierung. Dieser führt im Laufe der Zeit – und leider nur für wenige – zur Einbürgerung, wenn sie ihre Zukunft im Belpaese aufbauen wollen. In den Vereinigten Staaten ist das nicht der Fall. Vielleicht ist es ein puritanisches Erbe, aber wer sein Einreisevisum hat ablaufen lassen, kann sich nicht rehabilitieren, sondern muss das Land verlassen. Es gibt jedoch einen legalen Weg, um den Einwanderungsprozess von vorne zu beginnen: sich zum Militärdienst melden! Entweder du selbst als Illegaler oder dein Sohn bzw. deine Tochter können diesen Weg wählen, sobald sie volljährig sind. Sie können für ein Vaterland sterben, das sie nicht will.
Ich glaube nicht, dass ich jemals die Genugtuung erleben werde, die ICE-Beamten auf dem Feld in die Flucht zu schlagen. Ich weiß, dass die Jagd auf Illegale im Fernsehen und in den Boulevardzeitungen weiterhin als gerecht und notwendig dargestellt wird. Aber ich weiß auch, dass es eine neue, wache Menschheit gibt, die von Tag zu Tag wächst. Sie organisiert sich still und leise, um Widerstand zu leisten, sich gegenseitig zu helfen und ihre schwächsten sowie in Not geratenen Mitglieder zu unterstützen. Ich weiß auch, dass das Phänomen der gegen die ICE aufbegehrenden Stadtviertel keine Ausnahme in Brooklyn und New York City ist, weil Zohran Mamdani zum Bürgermeister gewählt wurde, sondern sich wie ein Lauffeuer in den wichtigsten Städten des Landes ausbreitet. In Südkalifornien, das von der ICE und sogar von der Nationalgarde schikaniert wird, haben sich Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern angewöhnt, sich vor großen Kaufhäusern wie Office Depot, Target usw. zu versammeln. So haben sie, wenn die ICE gesichtet wird, Zeit, die Mitarbeitenden im Laden zu warnen.
Not macht erfinderisch, Not lässt Gemeinschaft entstehen und schweißt sie zusammen. Es spielt keine Rolle, ob wir jemals die Gelegenheit haben werden, die Pfeife zu benutzen. Wahrscheinlich werden wir weiterhin machtlos gegenüber den Übergriffen der ICE sein. Aber wir wissen, dass dies nicht für immer so sein wird. Allein der Besitz dieser Pfeife und ihre Mitführung in der Hand- oder Hosentasche bedeutet die Möglichkeit der Befreiung einer ganzen sozialen Gruppe, ja sogar mehr: der menschlichen Gemeinschaft, die ihrem Namen alle Ehre macht, die sich gegen Barbarei auflehnt und sich gegen diejenigen wehrt, die uns in eine primitive und brutale Gesellschaft zurückversetzen wollen.
Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Kornelia Henrichmann vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!









