Dr. Heinz Rüegger (72), Ethiker, Theologe und Gerontologe aus Zollikerberg bei Zürich, beschäftigt sich bereits mehr als 30 Jahre mit dem Thema Altern. Besonders während seiner Arbeit als leitender Theologe im Diakoniewerk Neumünster in Zollikerberg wurde er mit geriatrischen Themen konfrontiert. Und auch jetzt nach seiner Pensionierung bleibt er dran am Thema Alter, hält Kurse und Vorträge, schreibt darüber. Er erlebt es so: «Das Thema Altern ist eine Nische. Altersethik wird nicht so intensiv betrieben, somit mache ich ein besonderes Angebot. Ich bin «leidenschaftlich alt» und reflektiere mein eigenes Älterwerden bei meiner Arbeit.»

Zeitpunkt: Können wir unser Älterwerden beeinflussen?

Dr. Heinz Rüegger: Ja, man kann es steuern. Altern ist plastisch, kein eisernes Gesetz. Es ist zu einem beträchtlichen Mass gestaltbar und formbar. Ich kann etwas für meine körperliche und mentale Gesundheit tun, für meine soziale Eingebundenheit und meine philosophisch-spirituelle Einstellung. Wir alle sind durch bestimmte Altersbilder geprägt. Manche davon können uns lähmen, deshalb sollten wir sie uns bewusst machen. Es lohnt sich über das eigene Lebensskript bezüglich des Alters nachzudenken.

Beim Nachsinnen über das Alter gibt es eine lange abendländische Tradition, einen philosophischen Dialog der Lebenskunst. Es geht um eine Philosophie des «guten Lebens» und dabei wird nicht normativ vorgegangen. Die «Trostliteratur» setzt sich seit der Antike mit dem Thema Altern auseinander. Ein Teil davon ist auch die «Altersklage».

Sicher kann Alter Grund zur Klage bieten, aber Altern muss nicht zwangsläufig Abbau und Elend bedeuten. Schon wenn man seine innere Perspektive vom «Anti-Aging» Richtung «Pro-Aging» verschiebt, hat man meiner Meinung nach etwas gewonnen. Man kann Alter dann eher als Chance und Herausforderung annehmen.

Zeitpunkt: Alter wird oft mit Verlust Wehmut, Trauer, Einsamkeit und grauen Farben gleichgesetzt. Wie sehen Sie das?

Dr. Heinz Rüegger: Man kann nicht bestreiten, dass Altern Minderung bedeutet, vor allem im hohen Alter. Die negative Sicht auf das Alter ist weit verbreitet. Wir alle sind teilweise so sozialisiert und konzentrieren uns zu sehr auf die negativen Punkte. Hierher gehört auch das Problem «Altersscham». Alte Menschen schämen sich zuweilen, alt zu sein, fragen sich, ob sie überhaupt noch das Recht haben, ihr Leben ganz auszukosten und alles zu leben, was dazu gehört. Darum ist es so wichtig, zum Alter Ja zu sagen und Sinn und Würde des Alters zu erkennen. Hermann Hesse hat das einmal so formuliert: «Um als Alter seinen Sinn zu erfüllen und seiner Aufgabe gerecht zu werden, muss man mit dem Alter und allem was es mit sich bringt, einverstanden sein. Man muss Ja dazu sagen.

Zeitpunkt: Was ist Ihr Leitspruch zum Thema Alter?

Dr. Heinz Rüegger: «Leben heißt altern.» Es gibt kein anderes Leben. Altern ist ein nicht endender Entwicklungsprozess. Das Alter ist eine Lebensphase wie alle anderen auch, also bringt es ein besonderes Potenzial mit sich und will als Entwicklung gelebt werden.

«Um Gottes Willen bloß nicht jung bleiben, sondern mit Lust und Laune alt werden.» Das wäre ein weiterer wichtiger Satz. Dabei hilft das aufgeklärte Pro-Aging. Und als besonders passend und berührend erlebe ich die Aussage des Philosophen Thomas Rentsch: «Altern ist ein Werden zu sich selbst im Vergehen.»

Zeitpunkt: Wie sieht Ihre persönliche Entwicklung im Alter aus?

Dr. Heinz Rüegger: Ich denke gemeinsam mit Menschen auf Tagungen und Seminaren über das Thema Alter nach. Meist sind es Erwachsene ab der Lebensmitte. C.G. Jung sagte, dass die zweite Lebenshälfte anders gelebt wird als die erste. Mit meiner Tätigkeit möchte ich auch den Dialog über diese Lebensphase in der Gesellschaft vorantreiben, die Akzeptanz für Altern erhöhen, die Altersbilder lockern und weiten. Dabei kann ich mein eigenes Altern mit reflektieren. Ich spüre mehr Gelassenheit, größere Freiheit, die Bereitschaft loszulassen, einfach zu sein. Für mich rückt das Kontemplative in den Vordergrund. Mein Ziel ist, Friede mit der eigenen Endlichkeit zu machen. Außerdem schreibe ich auch über das Thema, wie etwa das Buch «Lebenskunst des Alterns», das 2023 erschienen ist.

Interessant ist, dass sich die eigenen Überzeugungen im Alter ganz schön wandeln können. Es kann zu inneren tektonischen Verschiebungen kommen. Man braucht neue Antworten. Aber ich merke an mir selbst, man ist weniger ideologisch gesteuert, wird offener, bescheidener und toleranter. Eins müssen wir uns klar machen: Das Leben geht nicht auf. Es gibt keine Patentantwort. Man darf es offen lassen. Dennoch kann eine Psychotherapie auch im Alter helfen, das eigene Leben besser zu verstehen und zu klären. Im hohen Alter ist es schwer, zur Minderung Ja zu sagen. Da wird es ziemlich anspruchsvoll für uns. Gut und bewusst zu altern ist eine hohe Kunst und muss geübt werden.

Zeitpunkt: Wie umgehen mit der Angst vor dem Tod?

Dr. Heinz Rüegger: Viele Leute haben Angst vor dem Tod. Ein negativ eingefärbtes Todesverständnis, eine Pathologisierung des Todes ist in unserer Gesellschaft vorherrschend. Ein ganz aktueller Artikel in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet spricht darüber, dass der Tod wieder ins Zentrum des gesellschaftlichen Bewusstseins rücken müsse. Der Wert des Todes – «the value of death» – müsse wieder gesehen werden.

Glauben kann helfen, wenn man in Dankbarkeit auf sein Leben zurückblickt. Im Neuen Testament lässt sich zum Thema Alter nicht viel entdecken, aber das Alte Testament spricht von Menschen, die «alt und lebenssatt» sind. Es geht im Leben demnach darum, den Lebenshunger zu stillen. Wir sollten vor allem die positiven Seiten des Alterns würdigen.


*Zitat von Morgan Harper Nichols

Dr. Christine Born ist Diplom-Journalistin und Autorin. Sie interessiert sich für Politik, Kultur, Pädagogik, Psychologie sowie Naturthemen aller Art.

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