Im Herbst 2024 fand in Bielefeld ein kleines Symposium zum 80. Geburtstag von Oya-Rätin Veronika Bennholdt-Thomsen statt. Gemeinsam mit Weggefährtinnen hielten wir Rückschau auf ihre wegweisende Arbeit zum Thema Subsistenz. Zeit, sich umzuschauen und über die Aktualität dieses Ansatzes nachzudenken.
Wir schreiben das Jahr 2025: Überall tauchen Diskurse auf, die aufhorchen lassen: Endlich liegt das erste Kapitel der »Stone Age Economics« von Marshall Sahlins auf Deutsch vor. Darin verhandelt der angesehene US-Anthropologe die Ökonomie jagender und sammelnder Menschen als »ursprüngliche Wohlstandsgesellschaft«. Zeitgleich feiern Bücher zu Degrowth, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Wohlstand bestreiten, hierzulande hohe Auflagen. Und der Soziologe Andreas Reckwitz erfährt breite Zustimmung zu seiner aktuellen Zeitdiagnose über das nicht eingehaltene Fortschrittsversprechen der Moderne. Seine »Soziologie des Verlusts« konfrontiert die fortschrittseuphorischen Erzählungen mit unbeabsichtigten Nebeneffekten wie wachsender Ungleichheit, maroden Infrastrukturen und dem rasanten Verlust an intakten Ökosystemen und Artenvielfalt.
Aber gab es diese Art fortschrittskritischer Diagnostik nicht schon einmal? In den 1970er Jahren, als an der Universität Bielefeld im Kontext einer avancierten Entwicklungssoziologie über Subsistenzproduktion als keineswegs überwundene, sondern fortbestehende, lediglich »unsichtbar gemachte« und kolonisierte Arbeit in der Industriemoderne geforscht wurde? Ja, richtig erinnert: Der feministische Subsistenzansatz – und mit ihm Veronika Bennholdt-Thomsen – konnte mit diesen empirischen und theoretischen Perspektiven allerdings im akademischen Betrieb nicht Fuß fassen.
Waren die Bielefelderinnen etwa zu früh dran? Immerhin brachten sie, wie es damals hieß, »Frauenfrage«, »Ökologiefrage« und »Dritte-Welt-Frage« in einen analytischen Zusammenhang, waren damit intersektional und postkolonial von Anfang an und entwickelten zugleich eine Handlungsoption ökologischen Ausmaßes: die Subsistenzperspektive.
Obwohl die Subsistenztheorie historisch ein Ergebnis der Neuen Frauenbewegung seit den 1970er Jahren war und in ihr zunächst auch auf Resonanz stieß, stritt die feministische Bewegung insgesamt nicht für Subsistenz. Vielen Frauen ging es zuvorderst um Gleichstellung mit den privilegierten »weißen Männern«, die Solidarität richtete sich nicht auf alle Frauen weltweit.
Wir beide studierten an der Universität Bielefeld in den 1980er Jahren Soziologie, insofern haben wir die Auseinandersetzung um diesen radikalen, politischen, feministischen Ansatz miterlebt – und in Teilen auch mitgeführt. Der »Bielefelder Ansatz«, die ökofeministische Subsistenzperspektive, hat auch unsere weitere wissenschaftliche Arbeit beeinflusst: In der gemeinnützigen Münchener Stiftung »anstiftung« – die unter anderem die Netzwerke zu Urbanen Gärten, Offenen Werkstätten und Repair Cafés bundesweit unterstützt und erforscht – haben wir in unseren Publikationen immer wieder auch den Blickwinkel der Bielefelderinnen genutzt, um zeitgenössische Subsistenzbewegungen in der Stadt besser verstehen zu können.
Dadurch konnten wir erkennen, welches transformative Potenzial im Stadtgärtnern oder im Selbermachen generell liegt: in gemeinschaftlichen städtischen Subsistenzpraktiken, die den Fokus auf das Hier und Jetzt richten, die sich am Lauf der Jahreszeiten orientieren und die gegenseitige Unterstützung wie auch nicht-kommerzielle Formen von Gastlichkeit für alle kultivieren. Aus diesen Erfahrungen und Beobachtungen heraus können wir heute sagen, dass die Bielefelder Subsistenztheoretikerinnen ihrer Zeit weit voraus waren.
Andrea Baier und Christa Müller – anstiftung.de
Bei OYA erschienen in Ausgabe #81/2025, Seite 3










