Kann die ideologische Landschaft des Westens bildlich dargestellt werden? Die Aufregung bezüglich bestimmter „kultureller“ oder „zivilisatorischer“ Kriege, die schrecklichen Warnungen vor hinterhältigen und gefährlichen Intrigen, die von realen oder fiktiven Feinden ausgeheckt werden, die qualvollen Aufrufe zur Verteidigung der eigenen unantastbaren „Werte“, können uns nicht gleichgültig lassen. Während weltweit das Geräusch von marschierenden Stiefeln zu hören ist, die Wirtschaft ins Stocken gerät, sich die Lebensbedingungen verschlechtern und sich vor den Augen der ganzen Welt in Palästina das Massaker an einem Volk vollzieht, wird der geistige Raum praktisch von Konstruktionen an sich gerissen, die als Erklärungen der Realität dienen. Die Kategorien sind für jeden vorgegeben, die Etiketten sind vorgefertigt, die Parolen gut vorbereitet. Wir sollen alles verstehen, indem wir uns hinter die Guten stellen und unser Verhalten entsprechend regulieren. Die übernommenen Positionen sind vorhersehbar, klischeehaft und vorgeschrieben. Wir drehen uns im Kreis, während Emotionen, Affekte und Verurteilungen jegliches Nachdenken vertreiben.
Spaltungen und Teilungen
Spaltungen sind nichts Neues. Jede Epoche hat sie gekannt. Was die unsere (im negativen Sinn) kennzeichnet, ist der künstliche, vordergründige und manchmal surreale Charakter bestimmter Diskussionen. Wir befinden uns in einer frömmlerischen Atmosphäre, in der die diskutierten Themen nur Zerrbilder von dem sind, was dahinter liegt, in der die Ideen nur als Schattentheater in Erscheinung treten, in der die Gemüter sich über die Ausdrucksweise erhitzen, die meistens ohne Substanz ist, und in der die Ausgrenzung anderer auf Abstraktionen beruht, die angeblich unerlässlich für unser Dasein sind. Der Marxismus beschreibt diesen Zustand als „falsches Bewusstsein“. Im Mittelalter stritten sich gebildete Theologen und gelehrte Kleriker heftig über so bedeutsame Themen wie Engel und Cherubim. Wir wollen sie jedoch nicht zu sehr verspotten, weil die Scholastik unserer Zeit, obwohl sie weltlicher ist, kaum weniger absurd ist.
Vor einem knappen halben Jahrhundert herrschte eine andere ideologische, intellektuelle, politische und wirtschaftliche Atmosphäre vor. Sie war weitaus anregender, substanzieller und durchschaubarer als das schlimme Durcheinander, in Form eines schlechten Kabuki-Theaters, in dem wir heute stecken. Kapitalismus und Sozialismus prallten offen aufeinander, wobei jeder sein Zukunftsprojekt zum Ausdruck brachte, seine Erfolge zur Schau stellte, unter Einbeziehung aller Gesellschaftsbereiche. Die Forderungen waren fassbar, nachweisbar und konnten bestätigt oder widerlegt werden. An Propaganda fehlte es nicht, doch man konnte ihr mit der der anderen Seite entgegenhalten. Wir wissen, dass diese Ära automatisch mit dem (vorläufigen? endgültigen?) Sieg des Kapitalismus endete. Nicht dass er in einem guten Zustand gewesen wäre, doch der Sozialismus war in einem schlechteren Zustand und er brach zusammen und ließ verwirrte und sprachlose Anhänger zurück. Diese Transformation der Landschaft führte zum Verschwinden ebender Begriffe Sozialismus und Kapitalismus, ersterer, weil es an Förderern fehlt, letzterer, weil es notwendig ist, Worte zu vertuschen, die verletzen und negative Reaktionen hervorrufen können. Der Kapitalismus übernahm für sich weichere Bezeichnungen wie „Marktwirtschaft“, „liberale Demokratie“ und „Globalisierung“.
Eine Verarmung des Denkens
Seit den 1980er Jahren ist der Kapitalismus, in welcher Form auch immer, zum unwiderruflichen Rahmen allen Denkens geworden. Schon der Gedanke, die Gesellschaft umzuformen, wird aus dem Bereich der Machbarkeit verdrängt und ist nicht einmal mehr vorstellbar. Veränderungen, insoweit sie noch möglich sind, würden innerhalb des Kapitalismus auftreten. Es ginge jetzt einzig um gesellschaftliche, existenzielle und moralische Fragen. In dieser Phase erstarkte ein neu aufkommendes Konzept, das sich ausschließlich auf Fragen der Minderheitenidentität konzentrierte und die Konzepte des Staates und der sozialen Klasse ablöste. Die Gesellschaft wurde gespalten, indem sie sich von dem mehr oder weniger zusammenhängenden Ganzen, wie es mal war, in ein Mosaik verwandelte, das mehr oder weniger durch nebeneinanderstehende unterschiedliche Einheiten gebildet wurde. Der Universalismus verschwand und machte partikularistischen Einschränkungen Platz, die in gleicher Weise defensiv als auch bestimmend waren. Selbstverständlich kann man diesen fälschlichen „Kampf der Kulturen“ nicht dadurch bekämpfen, dass man ihn ignoriert. Diesen Spaltungen muss entgegengewirkt und eine Politik des gegenseitigen Anerkennens vorangetrieben werden. Allerdings darf das Verstehen von sozialen Strukturen, das Funktionieren von Wirtschaftssystemen, der Mechanismus der ideologischen Homogenisierung und der internationalen Machtverhältnisse jedoch nicht aus dem Blick verschwinden und von einem Durcheinander von Eindrücken, Überzeugungen und Trugbildern ersetzt werden.
Die sozialistische Linke, geschwächt, weil sie kein globales Projekt mehr hat, und stumm, weil ihr einsatzfähige theoretische Mittel fehlen, liefert keine bedeutsamen Analysen mehr. Ersatzhalber wandte sich ein Teil der Linken zersplitterten gesellschaftlichen Fragen zu. Einige äußern ausschließlich identitätsbezogenes Interesse, während andere die Umwelt verteidigen. Diese „Reformpolitik“ bekämpft Rassismus und Sexismus nach den Geboten der Gerechtigkeit, dabei zu oft die Einbeziehung von Verteilungsgerechtigkeit außer Acht lassend. Rassismus, Sexismus und Umwelt werden zu oft voneinander entkoppelt betrachtet, wodurch sich der Herausforderung des Kapitalismus dadurch nicht gestellt wird. Wie jedoch Nancy Fraser aufgezeigt hat, muss sich jede Gerechtigkeitstheorie nicht nur mit Anerkennung und politischer Repräsentation befassen, sondern auch mit Verteilungsgerechtigkeit. (Nancy Fraser,“ Neugestaltung der Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt“, New Left Review, Bd. 36, 2005,S. 69-88). Auf ähnliche Weise betonte auch Aurélie Trouvé von La France Insoumise die Wichtigkeit, eine linke Alternative vorzuschlagen, die nicht nur für das Grün der Umweltschützer, das Gelb der Gelbwesten und die unterschiedlichen Farben der Identitätsgruppen offen ist, sondern auch für das Rot der Arbeiterklasse. (Aurélie Trouvé, Le Bloc Arc-en-ciel, Paris, La Découverte, 2021). Das ist auch die Meinung von Chantal Mouffe, einer linkspopulistischen Politikerin, die an einer Gesellschaftauffassung arbeitet, die auf der Anerkennung aller ihrer Bestandteile beruht (Chantal Mouffe und Inigo Errejon, Construire un peuple, Paris, Cerf,2017)
Künstliche kulturelle Aneignungen
Die neoliberalen/neokonservativen Hüter der kapitalistischen Ordnung dagegen stolzieren herum und geben sich alle Mühe, nicht auf das System selbst aufmerksam zu machen. Alle Mittel sind gut, um abzulenken. Alles kann angewendet werden. Da die meisten Forderungen der postsozialistischen Linken nicht geeignet sind, den Kapitalismus herauszufordern, zögern die herrschenden Klassen nicht, Ideen von ihnen zu stehlen, weil es gut für Organisationen ist, sich mit Antikörpern zu impfen. „Politische Korrektheit“ und ihr Wortschatz sind längst in den Mainstream integriert. Allgemeiner gesagt ist die Denkweise, die auf der Erzeugung von Darstellungen, Wahrnehmungen und „Bildern“ beruht, der Postmoderne entlehnt, die ursprünglich ein Produkt linker Intellektueller war und heute von den Machthabern übernommen wird. In ähnlicher Weise wird die grundsätzlich gegen das Establishment gerichtete LGBTQ+ Bewegung mit einbezogen und normalisiert, bis hin zu einem Punkt, an dem sie zum Hebel der Außenpolitik westlicher Länder gegenüber Gesellschaften wird, die sie planen, zu destabilisieren. Damit wird eine an sich gerechte Sache als Waffe für imperialistische Zwecke benutzt. DEI (Diversity, Equality, Inclusion – Vielfalt, Gleichberechtigung, Inklusion) wurde auch dazu genutzt, um in ein Management- und Marken- Werkzeug sowie in zu einer offiziellen Politik von Staaten, Institutionen und Betrieben umgewandelt zu werden. Der „Wokismus“, eine abwertende Bezeichnung hierfür, ist grundsätzlich kritisch, weil er eine Offenheit für verschiedene Themen mit sich bringt und die Chance auf gegenseitige Anerkennung wahrnimmt. Mit seiner Vereinnahmung durch den Neoliberalismus ist er jedoch einer der wesentlichen Aspekte einer vorherrschenden Ideologie der Läuterung sowie ein Instrument gegenseitiger Beschuldigung, Spaltung und Zwietracht. Welche wirklich fortschrittlichen Maßnahmen die Neoliberalen/Neokonservativen auch immer ergriffen haben, wurden diese ohne Umschweife demontiert, wo auch immer Rechtspopulisten Zugang zu Machtpositionen erhalten.
Eine ungesunde Situation
Und somit nehmen die ideologischen Lager unserer Zeit Gestalt an. Die Linke wird durch ihre Gegner, aber auch durch ihre eigenen Defizite an den Rand gedrängt. In voller Verantwortung hat das neoliberale Lager das Sagen. Ihre Medien und Sendeanstalten sind ununterbrochen aktiv, übertönen jede andere Stimme und hämmern der Öffentlichkeit eine ständig aktualisierte Menge festgelegter Glaubenssätze in ihre Köpfe. Das Ziel ist alles andere als hintergründig: Konformität aufzwingen, jeden auch nur im Geringsten kritischen Ansatz verhindern. Das Knebeln ganzer Bevölkerungsgruppen auf Grund einer einfachen Anforderung einer Person, die behauptet, beleidigt, herabgewürdigt oder gefährdet worden zu sein, und auch die Kriminalisierung von Sichtweisen, die den Machthabern zuwider sind, sind heute gängige Praxis. Die Luft ist von einer einzigen Denkweise durchdrungen, die aus „Geschichtenerzählen“ und „ Narrativen“ besteht, die in keinem Zusammenhang zur Realität stehen. Die verwendete Sprache der „Kommunikation“ und der Öffentlichkeitsarbeit, die aus der kommerziellen Werbung und dem politischen Marketing stammt, ist süßlich und manipulativ. Die Demagogie, die Selbstbeweihräucherung der großtuerischen Rechtschaffenheit und die Zurschaustellung der gezielten Moral der „Demokratien“ fließen reichlich. Billige Sticheleien und hochtrabende Belehrungen werden in abfälliger Weise und bei jeder Gelegenheit an andere Länder übermittelt, die sich schuldig gemacht haben, dem Westen nicht zu folgen.
Das Pech für den Neoliberalismus besteht darin, dass die von ihm geschaffenen Trugbilder trotz aller Bemühungen um Verschleierung, trotz aller Ton-und Lichtshows, schließlich mit den hartnäckigen Realitäten zusammenprallen. Insbesondere die Wirtschaftskrise in 2008 versetzte uns einen schweren Schlag, der die tröstenden Märchen einer schönen neuen Welt zunichtemachte. Die vielgepriesene Globalisierung erwies sich als katastrophal. Millionen von Menschen sahen ihren Lebensstandard sinken und ihre Perspektiven sich trüben. In der Vergangenheit lenkte die Linke die Unzufriedenheit auf spezielle wirtschaftliche und politische Ziele. Heute ist die Linke „sonst wo“, obwohl die Gegebenheiten ihr ein riesiges Publikum hätte bieten müssen. Ihr Fehlen ebnet den Weg für die offen auftretende Rechte. Da eine machtvolle Bewegung nicht ohne Führung bleiben kann, ist es die Rechte, die diese Lücke gefüllt hat.
Dies erklärt den Anstieg der (sich selbst als nationalistisch oder freiheitlich bezeichnenden) Rechtspopulisten im Westen und die Rolle, die ihnen als den bedeutendsten Gegnern der etablierten Ordnung zufällt. Sie nehmen einen Platz ein, der von der antinationalen Linken unbesetzt gelassen wurde. Sie decken die sozioökonomischen Schwachstellen und Missstände auf, die das offizielle Denken verschleiert, doch da sie keine Lösungen oder Programme haben, die diesen Namen verdienen, spielen sie die Identitätskarte einer Mehrheit aus, die des „Minderheitenzentrismus“ überdrüssig ist, und greifen auf einen alten Fundus der Fremdenfeindlichkeit zurück, die alle Probleme den Einwanderern oder sonst irgendeiner gesellschaftlichen Gruppe zuschreibt. Ohne Sinn für Realität und dem Fehlen einer ernsthaften Auswertung reduziert sich ihre Botschaft auf die Empörung einer Bevölkerungsgruppe, die durch die normale Entwicklung des Kapitalismus hin zu Wachstum und Multinationalisierung benachteiligt wird. Diese Rechte versteht das kapitalistische System nicht und stellt es nicht in Frage, wahrscheinlich weil sie Unternehmer in ihren Reihen hat. Sie verwechselt den Schatten mit der Beute, sie wettert gegen Symptome und übersieht deren Ursachen. Als Reaktion auf die überhebliche Arroganz und die ideologische Hetze der Machthaber, greift diese Rechte auf „alternative Fakten“ zurück, womit sie sich dem Spott derjenigen aussetzt, die ihr die Verbreitung von „Verschwörungstheorien“ vorhalten.
Schlussfolgerung
Die Neoliberalen/Neokonservativen stellen die „extreme Rechte“ beharrlich als ihre einzige Opposition dar, in der Hoffnung, dass deren abstoßende Wirkung ihre Wählerschaft hinter sich zusammenführen würde. Da beide Lager die eigentlichen Ursachen nicht ernst nehmen, erscheinen die sich daraus ergebenden erbärmlichen politischen Kämpfe als epische Schlachten um „Werte“, bei denen es für die Neoliberalen/Neokonservativen ein leichtes Spiel ist, sich als Verfechter der Tugend darzustellen. Diese künstliche Polarisierung zahlt sich aus. Es ist eine Methode zur Errichtung eines dualen politischen Universums von Mitte – rechts/rechts, die in Frankreich seit der Präsidentschaft von Francois Mitterand im Einsatz ist. Dennoch sind Annäherungen an die Neoliberalen/Neokonservativen nicht ausgeschlossen, und falls nötig, leihen sich letztere ihr fremdenfeindliches Programm von den Ethnonationalisten aus, vor allem, um deren Wähler zu ködern.
So sieht die düstere politische Landschaft aus, mit der die Bevölkerungen der westlichen Länder konfrontiert sind. Es ist eine vollkommen ausweglose Situation und die Unzufriedenheit ist weitverbreitet. Sie ist hauptsächlich auf den Untergang der Linken zurückzuführen und wird nur überwunden werden, wenn sie wieder ihren Kurs findet, indem sie die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Missstände direkt in Angriff nimmt, überzeugende Analysen erstellt und ein innovatives Sozialprojekt für die Gemeinschaft entwirft. Die Gegebenheiten verlangen eine solche Transformation.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Doris Fischer vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!