Marietta Blau, die Frau, die Teilchen sichtbar machte. Während die Welt sich noch schwer damit tut, Frauen als gleichberechtigte Mitglieder der Wissenschaft anzuerkennen, beginnt ein junges Mädchen aus einem liberal-jüdischen Elternhaus in Wien, die Grundlagen der modernen Teilchenphysik mitzugestalten. Ihr Name: Marietta Blau. Ihre Geschichte: die einer leisen Pionierin, einer exilierten Forscherin – und einer vielfach übergangenen Entdeckerin.
1894 geboren in Wien – in einer Zeit, in der Frauen weder wählen noch selbstverständlich studieren konnten. Doch sie geht ihren Weg. Während Frauen noch um ihr Stimmrecht kämpfen, entscheidet sich Blau für einen anderen Kampf: den um Erkenntnis. Sie wird Physikerin. Und zwar eine, die Bahnbrechendes leistet. Als eine der ersten Frauen studiert sie in Wien Physik und Mathematik, promoviert 1919 zum Doktor der Philosophie und forscht bald an internationalen Instituten. Ein Gastsemester bei Marie Curie in Paris zeigt: Wissenschaft braucht Frauen – und sie leisten entscheidende Beiträge. Trotz ihres Talents arbeitet Blau am Wiener Institut für Radiumforschung jahrelang unbezahlt. Ihr Beitrag zur Physik ist bedeutend – doch die Anerkennung bleibt aus.
In den 1930er-Jahren gelingt Blau gemeinsam mit ihrer Schülerin Hertha Wambacher eine Entdeckung, die die Kernphysik veränderte: Mit Hilfe fotografischer Emulsionen können die beiden winzige Spuren von Teilchen aus der kosmischen Strahlung sichtbar machen. Die sogenannten „Zertrümmerungssterne“ – sternförmige Muster, die bei der Wechselwirkung von Atomkernen entstehen – liefern erstmals konkrete Einblicke in subatomare Prozesse. Eine Revolution, die Blau zur Anwärterin auf den Nobelpreis macht. Doch es kommt anders.
Mit dem „Anschluss“ Österreichs 1938 bricht ihre wissenschaftliche Laufbahn abrupt ab. Als Jüdin ist sie der Verfolgung schutzlos ausgeliefert. Sie flieht – zunächst nach Norwegen, dann nach Mexiko, wo sie dank eines Empfehlungsschreibens von Albert Einstein eine Professur an der Technischen Hochschule in Mexiko-Stadt erhält. Später emigriert sie in die USA. An der Columbia University, dem Brookhaven National Laboratory und der Universität von Miami forscht sie weiter – aber unter ganz anderen Bedingungen. An ihre Erfolge aus Wien kann sie nie wieder ganz anknüpfen.
In der Nachkriegsgeschichte wird ihr Name oft übergangen. Cecil Powell erhält 1950 den Nobelpreis für Arbeiten, die maßgeblich auf Blaus Methoden basieren. Ihre Kollegen und Kolleginnen – viele von ihnen inzwischen rehabilitiert oder etabliert – erwähnen sie kaum noch. Vorschläge zur Aufnahme in die Österreichische Akademie der Wissenschaften scheitern. Zwar erhält sie später den Erwin-Schrödinger-Preis, doch der institutionelle Rückhalt fehlt.
Als Marietta Blau 1960 nach Wien zurückkehrt, ist sie gesundheitlich angeschlagen, offiziell im Ruhestand – und dennoch bereit, sich wieder der Forschung zu widmen. Sie kehrt an das Institut für Radiumforschung zurück, wo einst alles begann, und arbeitet dort, wie schon Jahrzehnte zuvor, ohne Bezahlung. Trotz aller Rückschläge bleibt sie ihrer Leidenschaft treu: der Wissenschaft.
1970 stirbt sie in Wien, fast blind, ohne öffentliche Anerkennung durch die akademische Welt. Kein wissenschaftlicher Nachruf würdigt ihr Lebenswerk. Und doch – ihre Spuren sind geblieben.
Jahrzehnte später beginnt ihre späte Rehabilitierung: 2005 werden ein Hörsaal und eine Gasse in Wien nach ihr benannt. Heute gilt Marietta Blau als eine der großen, lange übersehenen Pionierinnen der modernen Physik. Sie war eine Frau, die das Unsichtbare sichtbar machte – in der Forschung wie im Leben. Ihr Vermächtnis wirkt weiter, als Ermutigung für kommende Generationen: Wissenschaft braucht Frauen. Und sie waren immer schon da.
29. April 1894, Wien – † 27. Jänner 1970, Wien, Physikerin.