Zustimmung und Widerspruch – Am 10.08.2023 veröffentlichte die internationale Presseagentur Pressenza einen Artikel von Hilde von Balluseck: „Strategien gegen Rechts“, auf den ich hier reagiere. Viele ihrer Überlegungen finde ich wichtig, habe aber auch Widerspruch.

Die Sorge um das Erstarken der Rechten und die Wahlerfolge der AfD, die Hilde von Balluseck in ihrem Artikel „Strategien gegen Rechts“ formuliert, teile ich. Zur Verbotsfrage habe ich mir noch keine abschließende Meinung gebildet und finde die im Artikel angesprochenen kritischen Überlegungen dazu sehr bedenkenswert. Ich finde es auch einen guten und lehrreichen Ansatz, sich in die Situation von deren Anhänger*innen zu versetzen und von dort aus Strategien gegen Rechts zu überlegen. Wie sonst könnte es gelingen, Andersdenkende zu überzeugen, als sich auf deren Gedanken und Empfindungen einzulassen und darauf zu reagieren – damit die herrschenden Verhältnisse nicht immer undemokratischer und gewaltvoller werden?

Für einen grundlegenden Wandel der zerstörerischen Wirtschafts- und Lebensweise wäre ein Paradigmenwechsel wichtig, der ökologische Nowendigkeiten nicht gegen soziale Erfordernisse ausspielt, sondern ein gutes Leben für alle anstrebt, das die ganze Bedürfnispalette einbezieht, statt sich nahezu ausschließlich auf Konsumgüter zu konzentrieren. Das kann weder durch staatliche Top-Down-Maßnahmen noch durch identitäres Moralisieren gelingen. Also keine Drangsalierung derjenigen, die es ohnehin schon schwer genug haben, ihr Leben zu bewältigen, sondern wirksame Maßnahmen gegen die machtvollen Akteure des profitablen Raubbaus und der systematischen Zerstörung.

Ein gutes Leben braucht gemeinsame Anstrengungen „von unten“, das Anknüpfen an Bedürfnisse und Sehnsüchte, und dabei so viele wie möglich mitzunehmen. Nicht belehren, sondern Erfahrungsräume und selbstbestimmte Realitäten schaffen. Den Horizont erweitern statt ihn immer mehr zu verengen auf das, was noch gesagt werden „darf“, und damit die Abgrenzung von „Die“ und „Wir“ – wie Balluseck mit Verweis auf Heitmeyer feststellt – und „die Ungleichwertigkeit von Gruppen“ festzuklopfen. Bis dahin kann ich mitgehen.

Die EU propagiert offene Grenzen?

Umso mehr irritiert mich jedoch, wie es im Artikel dann um Geflüchtete und die EU-Flüchtlingspolitik geht. Wann und wie hat die EU „die offenen Grenzen propagiert“, wie von der Autorin behauptet? Diese EU, die mit Frontex eine mörderische Organisation zur Abwehr von Geflüchteten betreibt und die tödlichen Grenzen der Festung Europa immer weiter ausdehnt, damit immer weniger Schutzsuchende Europa erreichen können? Am 20. Juni 2023 – dem Weltflüchtlingstag – erschien im Hirnkost-Verlag in dritter Auflage „Todesursache: Flucht – Eine unvollständige Liste“: „In den vergangenen dreißig Jahren sind mehr als 51.300 Menschen auf der Flucht nach und in Europa ums Leben gekommen. Dieses Buch veröffentlicht die Liste dieser belegten Fälle“. Diese europäische Flüchtlingspolitik klopft doch systematisch „die Ungleichwertigkeit von Gruppen“ fest.

Ja, „wir“ müssen über Strategien gegen Rechts sprechen – aber ohne hinter grundlegende menschenrechtliche Standards zurückzufallen. Mit der Verschärfung des Asylrechts wurden schon 1993 die Pogrome gegen Geflüchtete belohnt, und heute wird dieser gruppenbezogene Abbau von Grundrechten fortgeführt. Zur Veröffentlichung von „Todesursache: Flucht“ sagte Heribert Prantl: „Der EU-Asylkompromiss, auf den sich die Mitgliedsstaaten soeben geeinigt haben, ist der Versuch, die gesamte Migration zu irregularisieren und zu illegalisieren.“ Und: „Die EU-Anstrengungen haben das Ziel, dem Asylrecht die Rechtsqualität und dem Flüchtling den Schutz in Europa zu nehmen.“ Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) hat dazu eine Resolution verfasst: „Am 8. Juni 2023 haben die Innenminister*innen der EU einen Frontalangriff auf den Rechtsstaat beschlossen.“ (RAV vom 17.06.2023).

Menschenrechte sind unteilbar. Das sind für mich die roten Linien und die notwendige Grundlage für strategische Überlegungen und Diskussionen darüber, wie „wir“ gegen Rechts vorgehen können. Denn ich stimme Hilde von Balluseck zu: „Wir müssen uns einmischen“, mit Andersdenkenden sprechen und ihnen zuhören, aber – wie die Autorin ebenfalls betont – ohne auf die eigenen Überzeugungen zu verzichten.

Der Artikel von Elisabeth Voß erschien bei der Freitag.

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