Kinder, Jugendliche, Erwachsene. Ab welchem Alter sind wir in der Lage, Wählerin und Wähler zu sein? Die Antwort eines Kinder- und Jugendpsychiaters ist eindeutig.

Von Gunther Moll

Erwerb von Fertigkeiten

Alle Kinder werden mit Fähigkeiten und Begabungen geboren, die sich nicht nur zu Fertigkeiten ausbilden können, sondern aus einem „inneren Antrieb“ heraus sogar wollen und müssen. Dazu treiben sie der Wille, alles selber machen zu wollen sowie Neugierde und Wissensdurst, alles herausbekommen, erkennen und verstehen zu wollen, an.

Von klein auf können, wollen und müssen sie aus diesem „Urantrieb“ heraus alles erlernen: Laufen, Essen, Sprechen, gemeinsames Spielen, Lesen, Schreiben und Rechnen, verlässliche Freundschaft, liebevolle Partnerschaft, fürsorgliches Großziehen der eigenen Kinder, friedvolles Zusammenleben in sozialen Gruppen, verantwortungsvoller Schutz unseres Planeten. Dafür gibt es keine genetisch vorgegebenen Baupläne (und auch kein angeborenes Verhaltensprogramm, in einer Demokratie Wählerin und Wähler zu sein). Entscheidend ist hingegen die Art und Weise, wie Kinder aufwachsen, was sie erleben, wahrnehmen, fühlen und denken, wie sie handeln, sich an vorgefundene Umgebungen anpassen sowie diese umgestalten und verändern. Was Kinder nicht erfahren, was sie nicht eigenständig erlernen und ausführen und somit in ihr Verhaltensrepertoire fest aufnehmen, wissen und können sie nicht. Dabei kann, wenn sie (dies gilt auch noch für Erwachsene) auf zu viele Begrenzungen und Verbote stoßen, Ablehnungen und Ausgrenzung erleiden oder durch Drogen sowie virtuelle Medien den Kontakt zum echten Leben verlieren, ihr „Urantrieb“ – und damit der „Motor“ für Selbstbestimmung, Freiheit und Zufriedenheit – verloren gehen (und sie „Nicht-Wähler“ werden).

Kinder sind von Geburt an aber nicht nur eigenaktiv, sondern auch prosozial eingestellt und ausgerichtet. Sie sind keine Einzelwesen, sondern für Kontakte, Beziehungen und das Leben in sozialen Gemeinschaften geschaffen, für das Gemeinsam und Miteinander machen, das Teilhaben und Mitbestimmen wollen sowie in Freiheit und Frieden zusammenleben können.

Kinder müssen alles erlernen. Dabei brauchen sie zur Ausbildung ihrer Fertigkeiten und Kompetenzen – und hierzu gehört auch, Wählerin und Wähler zu sein – eine so lange Entwicklungs- und Lernzeit, dass dafür ein ganz besonderer Lebensabschnitt, die „Kindheit“ geschaffen wurde.

Die Kindheit

Über zehntausende von Generationen hinweg erwarben unsere Vorfahren durch erfolgreiches Selber wie Gemeinsam machen, Entdecken von Neuem sowie Lösen schwieriger Aufgabe die Fähigkeit, die Abhängigkeiten vom Hier und Jetzt zu überwinden. Durch Denken und Planen wurden Lebensbedingungen, Umwelt und Zukunft immer stärker gestaltbar. Alles wurde ausprobiert, „Übung machte den Meister“. Der dadurch erreichte immense Zuwachs an Wissen, Techniken und Regeln erforderte aber eine immer länger werdende Lernzeit der Nachkommen, um erfolgreich möglichst viele Fertigkeiten erwerben und als Erwachsene anerkannt in sozialen Gemeinschaften leben zu können.

Die „Lösung“ der Gehirne unserer Vorfahren war ein Hinauszögern der Geschlechtsreife und damit der Partnersuche, der Fortpflanzung und des „Erwachsen seins“. Durch die damit erreichte Verlängerung des „noch ein Kind seins“ konnte sich der Nachwuchs in Ruhe einen umfassenden Wissensstand aneignen und zukünftige soziale Rollen in vielfältiger Weise spielerisch einüben.

In diesem Entwicklungszeitraum – der die ersten 12 bis 14 Lebensjahre umfasst – lernen Kinder immer besser, selbstständig zu sein, ihre Gefühle zu regulieren, Abhängigkeiten und Zusammenhänge zu erkennen, sich selbst Ziele zu setzten, längerfristige Pläne zu entwerfen und trotz Ablenkungen und Hindernissen wirkungsvoll umzusetzen, Auswirkungen ihres Verhaltens auf Mitmenschen, Natur und Umwelt abzuschätzen sowie im Team sicherer und erfolgreicher als alleine zu sein.

Nochmals deutlich erweitert wurden Erwerb und Ausformung dieser Fertigkeiten durch die erst wenige Generationen zurückliegende verpflichtende Einführung einer „Schulzeit“.

Die Schulzeit

In diesem Lernzeitraum können und müssen die kognitiv-kulturellen Fertigkeiten, Werte und Haltungen sowie gegenseitige Unterstützung und soziale Verantwortung weiter geübt und vertieft werden. Staat und Politik haben dabei – dies schreibt die UN-Kinderrechtskonvention verbindlich vor – die Bildung eines jeden Kindes darauf ausrichten, seine „Persönlichkeit, Begabung und geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen“.

Dafür ist ein breites Themen- und Stoffangebot notwendig. Zu diesem gehört von Anfang an auch die politische Bildung. Diese kann in den Lehrplänen Fächerübergreifend abgebildet und mittels Projektarbeiten mit Entwürfen eigener Wahlprogramme, Diskussionen der Parteiprogramme aus Sicht der verschiedenen Schulfächer, „Wahlkampf“ von Klassen gegeneinander und vielem anderen mehr vermittelt werden. Damit können alle Schülerinnen und Schüler in ihren ersten sechs bis acht Schuljahren die Grundlagen für ein gutes Leben in Gesundheit, Freiheit, Verantwortung, Selbstbestimmung, Gemeinwohl und Frieden wie auch – im besonderen – die Voraussetzungen und Fertigkeiten zum Wählen erwerben. Wenn Schülerinnen und Schüler nach acht Schuljahren nicht darüber verfügen, wurde ihnen dies nicht vorgelebt, gelernt, erfahrbar gemacht und vermittelt.

Die Schlussfolgerung

Nach dem Säuglings- und Kleinkindalter haben wir einen zehn Jahre langen Lebensabschnitt voller freier Zeit, Ungebundenheit und spielerischem Ausprobieren und Erleben geschenkt bekommen. Diese Lern-, Spiel- und Übungszeit noch ohne Verantwortung für Auskommen, Gemeinschaft und Zukunft müssen wir unseren Kindern erhalten. Die Kindheit endet mit dem Eintritt der Geschlechtsreife – im Durchschnitt zwischen 12 und 14 Jahren -, dem biologischen Kriterium für Erwachsen sein.

Mit 12 Jahren, spätestens mit 14 Jahren, können für die Gemeinschaft verantwortliche und in die Zukunft gerichtete Entscheidungen getroffen werden. Hierzu haben Kinder die emotionalen Grundlagen vor allem in der Familie, die sozialen Fertigkeiten weiter im Kindergarten und die kognitiven Fertigkeiten zusätzlich in den ersten sechs bis acht Schuljahren erworben. Sie sind nun mutig, entschlossen, zu neuen Wegen und Lösungen bereit sowie verlässlich und verantwortungsbewusst für ihre Mitmenschen wie für unseren Planeten, dem sozialen Kriterium für Erwachsen sein.

Mit 14 Jahren sind aus Kindern junge Erwachsene geworden. Und Erwachsene dürfen wählen.

Ein Ausblick

Mit ihrem „Urantrieb“, ihre Bildung und ihre Ausrichtung in die Zukunft werden die jungen Erwachsenen den „Sinn des Lebens“ von Äußerlichkeiten und Dingen hin zu Erlebnissen und Beziehungen sowie die Wirtschafts- und Konsumziele vom Neuesten, Billigsten und Größten hin zum Nachhaltigsten und Kreislauffähigsten wandeln. Davor fürchten sich aber diejenigen, welche die Macht der „alten“ Erwachsenen, des Staates, der „Lobby-Politik“ und der Geld-Finanz-Wirtschaft um jeden Preis erhalten wollen. Deshalb unterstellen sie der jungen Generation noch Unreife und Unfähigkeit, die „wichtigen Angelegenheiten“ des Lebens und der Politik schon zu verstehen.

Die jungen Erwachsenen werden uns aber allen zeigen, was „in ihnen steckt“. Wenn wir sie nur mitmachen, teilhaben und mitentscheiden lassen. Und dazu gehört das Wahlrecht.

 

Professor Dr. Gunther Moll
Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Buchautor und Kommunalpolitiker
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