Die Bundeswehr entsendet wieder Soldaten nach Bosnien-Herzegowina. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach Dayton sind die Ordnungsversuche des Westens dort gescheitert.

Die Bundeswehr entsendet knapp zehn Jahre nach ihrem Abzug wieder Soldaten in den EU-Einsatz in Bosnien-Herzegowina. Seit Dienstag sind deutsche Militärs erneut im Hauptquartier der EU-Operation Althea in Sarajevo präsent; weitere sollen im Rahmen sogenannter Liaison and Observation Teams (LOT) die bosnisch-herzegowinische Bevölkerung ausforschen und zugleich bei ihr für den EU-Einsatz werben. Ursache ist das Scheitern des vor mehr als einem Vierteljahrhundert unterzeichneten Dayton-Abkommens, mit dem es nicht gelungen ist, Bosnien-Herzegowina zu stabilisieren und dem Land zum Aufschwung zu verhelfen. Stattdessen blockiert der Ethno-Proporz à la Dayton im Verbund mit äußerer Einmischung jeglichen Fortschritt. Hinzu kommt, dass der Westen bis heute an der Einsetzung eines Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina festhält, der über keinerlei demokratische Legitimation verfügt und in Sarajevo nach Art eines kolonialen Statthalters herrschen kann. Die Rückkehr der Bundeswehr nach Sarajevo erfolgt, während Berlin – in Bosnien-Herzegowina gescheitert – die Truppe zur militärischen Positionierung gegen China in die Asien-Pazifik-Region schickt.

Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina

Fast zehn Jahre nach dem Abzug ihrer vorläufig letzten Soldaten ist die Bundeswehr seit Dienstag (16. August) wieder in Bosnien-Herzegowina im Einsatz. Deutsche Truppen waren dort nach der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens am 14. Dezember 1995 zunächst im Rahmen der NATO-Operationen IFOR (bis Dezember 1996) sowie SFOR (bis Dezember 2004), dann im Rahmen der EU-Operation Althea stationiert, bis die Bundesrepublik ihre militärische Beteiligung im November 2012 beendete. Jetzt entsendet Berlin erneut Soldaten in den Stab des Althea-Hauptquartiers in Sarajevo; darüber hinaus soll die Bundeswehr zwei sogenannte Liaison and Observation Teams (LOT) bilden. Deren Aufgabe besteht einerseits darin, die Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas auszuforschen, um frühzeitig Hinweise auf etwaige Unruhen zu erhalten, andererseits aber auch darin, um größere Akzeptanz für Althea zu werben. Dazu sollen bis zum vierten Quartal 2022 rund 25 Soldaten nach Bosnien-Herzegowina entsandt werden. Ihr Mandat ist – zunächst – bis zum 30. Juni 2023 befristet. Den entsprechenden Beschluss hat der Bundestag bereits am 8. Juli gefällt.[1]

Verarmt und ethnisiert

Ursache für die erneute Entsendung deutscher Soldaten ist das Scheitern der Bemühungen, Bosnien-Herzegowina auf der Grundlage des Dayton-Abkommens unter Führung von NATO und EU zu stabilisieren. Das Land ist mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Abschluss des Abkommens völlig verarmt; jedes Jahr wandert rund ein Prozent der Bevölkerung auf der Suche nach besseren Lebensperspektiven aus (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Politisch würgt die Ethnisierung des bosnisch-herzegowinischen Staats und seiner Strukturen, die im Dayton-Abkommen festgeschrieben ist, sämtliche Bemühungen um gesellschaftliche Modernisierung regelmäßig ab. Zerfallstendenzen hingegen, die sich aus der Ethnisierung ergeben, blockieren die westlichen Mächte, weil sie ihren Interessen zuwiderlaufen. Das trifft insbesondere die Bestrebungen der Republika Srpska, größere Eigenständigkeit zu erlangen oder sich sogar aus Bosnien-Herzegowina zu lösen: Dies sowie ein etwaiger Anschluss an Serbien würde Belgrad stärken, das seinerseits vergleichsweise eng mit Moskau kooperiert. Die Folge der widersprüchlichen westlichen Politik ist wachsende Unruhe im Land.

Quasikolonialer Statthalter

Aktuell entzünden sich Konflikte in Bosnien-Herzegowina an zweierlei. Zum einen fordern bosnisch-kroatische Nationalisten eine Wahlrechtsreform, die sie begünstigen würde; dabei werden sie vor allem vom EU-Mitglied Kroatien unterstützt. Zum anderen nutzt der neue Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, der CSU-Politiker und ehemalige deutsche Landwirtschaftsminister Christian Schmidt, im Unterschied zu seinem Amtsvorgänger seine Vollmachten aus. Der Hohe Repräsentant, stets ein Politiker aus einem Mitgliedstaat der EU, hat die Kompetenz, demokratisch gewählte Amtsträger zu entlassen, bestehende Gesetze aufzuheben oder neue Gesetze eigenmächtig zu oktroyieren. Er wird daher immer wieder mit Statthaltern europäischer Mächte in der Kolonialzeit verglichen. Im Fall von Schmidt kommt hinzu, dass sein Amtsantritt zum 1. August 2021– anders als diejenigen seiner Vorgänger – von Russland nicht gebilligt wurde; Moskau arbeitet stattdessen im UN-Sicherheitsrat darauf hin, den mit demokratischen Prinzipien nicht vereinbaren Posten abzuschaffen. Die fehlende Unterstützung aus Russland nimmt Schmidt vor allem bei den bosnischen Serben jegliche Legitimität.

„Nehmen Sie hin, wie ich entscheide!“

Am Mittwoch ist der Streit um Schmidt weiter eskaliert. Hintergrund ist, dass der CSU-Politiker sich zuletzt für eine Wahlrechtsreform ausgesprochen hat, die die Einführung einer Dreiprozenthürde vorsieht – günstig für bosnisch-kroatische Nationalisten, diskriminierend für Sinti und Roma sowie für Juden, die wegen des im Dayton-Abkommen festgelegten Ethno-Proporzes ohnehin von zentralen Staatsämtern in Sarajevo ausgeschlossen sind. Auf heftige Kritik hin hat Schmidt zunächst von dem Oktroy der Wahlrechtsreform Abstand genommen, behält sich jedoch, sollten die bosnisch-herzegowinischen Parteien zu keiner Entscheidung dazu kommen, die Maßnahme vor – dies voraussichtlich noch vor der Wahl, die für den 2. Oktober anberaumt worden ist. Der damit in Aussicht stehende Eingriff in das Wahlrecht mitten im Wahlkampf wird von Beobachtern scharf kritisiert. Am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Goražde im Osten des Landes von einer Journalistin auf die Kritik angesprochen – auch darauf, dass die Reform Sinti, Roma und Juden diskriminiert –, wurde Schmidt ausfällig und schrie die Fragestellerin an, der Einwand sei „kompletter Unsinn“: „Bitte nehmen Sie hin, wie ich entscheide!“[3] Schmidts cholerischer Wutausbruch hat gestern sogar in Deutschland scharfe Kritik provoziert.[4]

„NATO statt EU“

Unterdessen werden Forderungen laut, auf die zunehmenden Spannungen in Bosnien-Herzegowina mit der Ersetzung der EU-Operation Althea durch einen neuen NATO-Einsatz zu reagieren. Dies sei angesagt, da die NATO robuster auftrete als die EU, hieß es in der vergangenen Woche in einem Medienbeitrag. Es komme hinzu, dass Althea bisher vom UN-Sicherheitsrat mandatiert worden sei; ob Russland aber einer Verlängerung des Mandats zustimmen werde, das im November auslaufe, sei sehr fraglich.[5] Für diesen Fall aber gebe es die Option, auf eine Bestimmung im Dayton-Abkommen zurückzugreifen, laut der es genüge, einen NATO-Einsatz vom Nordatlantikrat beschließen zu lassen, also vom höchsten Entscheidungsgremium des Kriegsbündnisses selbst.

Großspuriges Scheitern

Die Rückkehr der Bundeswehr nach Bosnien und die Debatte über eine Rückübertragung des Einsatzes an die NATO erfolgen, während Berlin die deutschen Streitkräfte nicht nur in Ost- und Südosteuropa massiv gegen Russland in Stellung bringt, sondern sie zudem in der Asien-Pazifik-Region gegen China zu positionieren sucht [6]: Mit dem großspurigen Versuch, als Weltmacht aufzutreten, geht komplettes Scheitern in der unmittelbaren Nachbarschaft einher.


[1] Bosnien und Herzegowina – EUFOR Operation Althea. bundeswehr.de.

[2] S. dazu Zurück auf Los.

[3] „Absolut unangemessen“ – SPD-Abgeordneter kritisiert Schmidt-Ausraster. spiegel.de 18.08.2022.

[4] Maximilian Popp: Wie ein Kolonialherr. spiegel.de 18.08.2022.

[5] Leon Hartwell, Hikmet Karčić, Josephine Mintel: Send NATO Troops to Help Stabilize Bosnia and Herzegovina. warontherocks.com 12.08.2022.

[6] S. dazu Die zweite Front der Bundeswehr.

Der Originalartikel kann hier besucht werden