Debatte über Klimafolgen des Ukraine-Krieges: Konservative Medien loben wegen Abstrichen bei der Energiewende „grünen Realitätssinn“; Kritiker fordern Klimaschutz statt Wettrüsten.

In der Bundesrepublik entfaltet sich eine kontroverse Debatte über die klimapolitischen Folgen der russischen Invasion in die Ukraine sowie der Reaktion des Westens auf sie. So fordert etwa der Vorsitzende der Deutschen Energieagentur, Andreas Kuhlmann, der Ukraine-Krieg müsse zu einem „Umdenken bei der Energiewende“ führen; es werde nötig sein, stärker auf Kohle zu setzen als zuletzt geplant. Konservative Medien loben einen bemerkenswerten „grünen Realitätssinn“, der sich unter anderem darin äußere, dass Bundeswirtschafts- und -klimaminister Robert Habeck bereit sei, den Klimaschutz zugunsten außen- und militärpolitischer Vorgaben zurückzustellen. Führende EU-Vertreter hingegen werben dafür, radikal auf die Nutzung „grünen“ Wasserstoffs als Energieträger umzuschwenken. Beobachter weisen allerdings darauf hin, dass bereits eingeplante Wasserstofflieferanten in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten die aktuell gewonnene Energie für ihren Eigenbedarf benötigen. Kritiker warnen, die Welt könne sich angesichts der Klimakrise den neuen globalen Rüstungswettlauf nicht leisten.

„Viele Sorgen“

In den deutschen Leitmedien entfaltet sich eine kontroverse Diskussion über die klimapolitischen Folgen der russischen Invasion in die Ukraine. Dabei kontrastieren Forderungen nach einer Beschleunigung der Energiewende mit Mahnrufen, die scheinbar stabile fossile Energieversorgung solle beibehalten werden. So fordert etwa der Vorsitzende der Deutschen Energieagentur, Andreas Kuhlmann, der Ukraine-Krieg müsse zu einem „Umdenken bei der Energiewende“ führen; dies werde massive Auswirkungen auf die Klimaziele haben.[1] In der gegenwärtigen Lage müsse Berlin zwar „alle Optionen prüfen“; doch werde die Bundesrepublik in den kommenden Jahren sicherlich „mehr Kohleverstromung sehen als bislang gedacht“. Rund 60 Prozent des in der EU konsumierten Erdgases kämen schon jetzt nicht aus Russland; weitere zehn bis 15 Prozent könnten auf dem Weltmarkt eingekauft werden. Für die verbleibende Versorgungslücke müssten etliche Substitute diskutiert werden, darunter Biogas, aber eben auch Kohle. Die Umstellung auf Wasserstoff als Energieträger, auf den vor allem die Industrie angewiesen sein werde, stecke noch in der Anfangsphase; dies sei einer der Gründe, wieso dem Erdgas ursprünglich eine Brückenfunktion eingeräumt worden sei. Auch der Austausch von Gasheizungen durch Wärmepumpen werde nur schleppend vorankommen, da sich vieles noch im Forschungsstadium befinde. Zugleich solle sich die Politik verstärkt Fragen der Energieeinsparung und -effizienz zuwenden, fordert Kuhlmann. Er habe aufgrund des Ukraine-Krieges das Gefühl, die Energiewende müsse jetzt „erst recht“ forciert werden; doch kämen nun „viele Sorgen auf uns zu“, insbesondere auch die hohen Energie- und Lebensmittelpreise.

Die Wasserstoffweltordnung

Führende Repräsentanten der EU sprechen sich hingegen tatsächlich für eine europaweite Beschleunigung der Energiewende aus, die vor allem mit einem „Durchbruch“ bei „grünem Wasserstoff“ realisiert werden soll.[2] Laut Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans soll Europas Abhängigkeit von fossilen russischen Energieträgern schon „deutlich vor 2030“ minimiert werden. Russlands Krieg gegen die Ukraine habe bestätigt, dass die Energiewende beschleunigt werden müsse, wobei Wasserstoff, der mittels Elektrolyse aus Sonnen-, Wind-, und Wasserenergie gewonnen wird, ein „zentrales Element“ dieser Transformation bilden müsse. Branchenvertreter sprechen von einem kriegsbedingten Durchbruch für die Wasserstoffwirtschaft: Es seien die hemmenden „Dämme gebrochen“; die Branche erhalte einen „kräftigen Schub“. Bis 2030 sollten in der EU 20 Millionen Tonnen Wasserstoff verbraucht werden, um die Hälfte des aus Russland importierten Erdgases zu ersetzen, heißt es; hierzu müssten rund 80 Milliarden Euro in den Aufbau einer entsprechenden Wasserstoffinfrastruktur fließen. Zu finanzieren sei dies vor allem durch die Bepreisung von Kohlendioxid. Berlin habe zwecks Herstellung und Import von grünen Wasserstoff bereits „Wasserstoffbüros in Australien, Chile, Namibia, Saudi-Arabien und der Ukraine“ errichtet, um sich so einen Überblick über Herstellungsmöglichkliten und Liefermengen zu verschaffen, bevor konkrete Verträge abgeschlossen würden, wird berichtet. Auch in Marokko und Spanien sollen Produktionsanlagen entstehen. Deutsche Medien sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Wasserstoffweltordnung“, die derzeit im Entstehen begriffen sei.[3]

Von Nordafrika bis Australien

Indes warnen Beobachter, die Suche nach künftigen Wasserstofflieferanten für Deutschlands bedrohte Industrie sei mit hohen Hürden konfrontiert.[4] Zwar könne etwa Nordafrika aufgrund seiner geografischen Nähe zu einem zentralen Lieferanten der EU aufsteigen; doch lasse der steigende eigene Energieverbrauch der Länder Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens einen massenhaften Wasserstoffexport in die EU illusorisch erscheinen. Der wachsende Eigenbedarf der nordafrikanischen Länder stehe beim derzeitigen Ausbau erneuerbarer Energien in der Region im Vordergrund; erst wenn dieser befriedigt sei, könne „ein Energieexport folgen“. Marokko, das als regionaler „Musterschüler“ der Energiewende gilt, wird voraussichtlich im Jahr 2024 erst 52 Prozent seiner Stromversorgung aus regenerativen Energiequellen decken können. Deshalb fasse Berlin inzwischen sogar Länder wie Australien und Chile als potenzielle Lieferanten ins Auge, heißt es.

„Grüner Realitätssinn“

Mit Blick darauf loben konservative Kommentatoren einen „grünen Realitätssinn“, der angesichts des Ukraine-Krieges in der Parteiführung von Bündnis 90/Die Grünen zu einer Relativierung des Umweltschutzes geführt habe.[5] Dies sei ein „mutiger und nötiger Schwenk“, der auf eine neue „Nachdenklichkeit in der grünen Klimapolitik“ hindeute, hieß es kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dies bedeute letztlich, dass kurzfristig „mehr Kohlekraftwerke in der Reserve bleiben oder gar länger laufen“ müssten, erläuterte das Blatt unter Verweis auf eine Äußerung von Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck, der „im Zweifel“ der Sicherheitspolitik eine höhere Priorität als der Klimapolitik einräumen wolle. „Pragmatismus muss jede politische Festlegung schlagen“, wurde Habeck zitiert. Diese neue Ehrlichkeit sei „mutig“, hieß es in der Frankfurter Allgemeinen, wobei der „überraschend entdeckte Realitätssinn“ dem großen Anliegen der Energiewende „nur guttun“ werde. Deutschlands Klimapolitik gründe auf einer „Illusion“, der zufolge guter Wille und schuldenfinanzierte Subventionen die Energiewende herbeiführen könnten; doch nun zwinge „die Wirklichkeit“ in Gestalt des Ukraine-Krieges die Grünen, ihre „teilweise auf dem Holzweg“ befindliche Klimapolitik mit „anderen wichtigen Staatszielen“ abzustimmen, vor allem mit der Außen- und Militärpolitik. Ähnlich argumentieren deutsche Wirtschaftsmedien, die angesichts der russischen Invasion eine abnehmende Bereitschaft in großen westlichen Volkswirtschaften konstatieren, „alles dem Klimaschutz“ unterzuordnen.[6] Die Politik müsse eine größere „Realitätsnähe“ beweisen, indem sie Klimapolitik in eine „umfassende Strategie zur Durchsetzung europäischer Interessen“ einbette und übergeordnete „sicherheits-, entwicklungs-, außenwirtschafts- und klimapolitische Pakete“ schnüre, in denen alle EU-Staaten „ihre Interessen wiederfinden“ würden.

Weichenstellungen für Dekaden

US-Medien wiederum weisen darauf hin, dass die energiepolitische Reaktion der EU auf den Ukraine-Krieg die „Zukunft der Klimakrise“ beeinflussen kann.[7] Insbesondere die zunehmenden Importe von Flüssiggas aus den Vereinigten Staaten könnten dazu führen, dass die EU langfristig auf diesen fossilen Energieträger angewiesen sei: Die notwendige Infrastruktur müsse neu errichtet werden; dies wiederum erschwere einen schnellen Ausstieg. Europa wäre demnach über Dekaden in der Flüssiggaslieferkette „eingesperrt“. Ohnehin scheine der Konflikt um die Ukraine die Implementierung der Beschlüsse des Pariser Klimagipfels zu verzögern, heißt es in einem Beitrag aus Indien.[8] Der Klimaschutz drohe in vielen Weltregionen sogar „voll zu entgleisen“, da etliche Staaten ihre Ausgaben bei der Klimapolitik zugunsten von Hochrüstung und Militarisierung kürzten, während die zunehmenden Konflikte eine abgestimmte globale Klimapolitik immer stärker behinderten. Derzeit zeichne sich gar ein neuer Rüstungswettlauf ab, den sich die Menschheit angesichts der Klimakrise nicht mehr leisten könne. Nicht zuletzt Deutschland sei, wie auch weitere NATO-Staaten, dabei, seinen Militärhaushalt massiv aufzustocken. Die globalen Militärausgaben in Höhe von 1,93 Billionen US-Dollar im Jahr 2020 hätten demnach ausgereicht, um die Hälfte der gesamten Investitionen der Energiewende zu finanzieren, die benötigt würden, um im Jahr 2050 emissionsfrei zu sein. Entweder „lernen wir zu schwimmen“, heißt es in dem Beitrag, „oder wir gehen gemeinsam unter“.

 

[1] „Massive Auswirkungen auf Klimaziele“. tagesschau.de 10.03.2022.

[2] Wie Putin die EU-Energiewende beschleunigt. zdf.de 13.03.2022.

[3] Wüstenstrom statt Putins Gas – die Wiederbelebung einer Jahrhundert-Idee. welt.de 01.04.2022.

[4] Energie: Europa sucht den Superlieferanten. heise.de 31.03.2022.

[5] Grüner Realitätssinn in der Energiepolitik. faz.net 02.03.2022.

[6] Wie realitätsnah ist die europäische Klimapolitik? wiwo.de 11.03.2022.

[7] How Europe’s response to Russia’s war in Ukraine could shape the climate change future. news.yahoo.com 30.03.2022.

[8] Ukraine war is terrible news for the fight against climate change. timesofindia.indiatimes.com 26.03.2022.

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