Es ist noch fast dunkel, der Himmel grau verhangen, als ich an der Kreuzung zweier stark befahrener Straßen des modernen Warschaus Rut Kurkiewicz-Grocholska treffe. Sie ist eine bekannte und engagierte polnische freie Journalistin und war zwischen August und November 2021 wochenlang in der bewaldeten Grenzregion zwischen Polen und Belarus unterwegs, sammelte Zeugenberichte und Stimmen syrischer, irakischer, afghanischer, jemenitischer Immigrant*innen – aber auch Kongoles*innen und Senegales*innen, die in die Falle des belarussischen Präsidenten Lukaschenko geraten sind.

Ich steige in Ruts Auto und wir machen uns auf die Fahrt nach Bialystok, eine Strecke von 2 Stunden 56 min, eine Grenzstadt umgeben von einem der ältesten Waldgebiete Europas. Rut hat diesmal versucht, eine Sondererlaubnis vom polnischen Innenministerium einzuholen, aber keine Antwort bekommen. Das entspricht dem was mir alle Aktivist*innen der Gruppe Granica bestätigen. Sie sind Teil der Zivilgesellschaft, die sich der Brutalität der polnischen Regierung im Umgang mit Migrant*innen entgegenstellt. Immer mehr Leute schließen sich an, Menschenrechtsaktivist*innen und Grenzanwohner*innen. „Seit dem 2. September aufgrund einer Notstandsverordnung, die für 115 Kleinstädten in der Region Podaskie und für 68 Gemeinden der Region Lubeskie erlassen wurde, darf sich niemand der sogenannten roten Sperrzone nähern, insbesondere keine Journalist*innen. Rut redet unaufhörlich weiter, während sie fährt, mit Kontakten in der Granicza-Gruppe telefoniert, die trotz aller Widrigkeiten unermüdlich zwischen Kuznica und Bialowieza an der langen Grenzlinie als Beobachter*innen präsent sind.

Trotz der Interventionen des europäischen Menschenrechtsgerichtshofes am 26.Oktober 2021, hat das polnische Parlament das Gesetz zur „Zurückweisung illegaler Migrant*innen“ verabschiedet. Und Rut antwortet: „Nur wenn Jemand von uns da ist, im Moment der Festnahme einer Familie, einer Frau, eines Jugendlichen durch die polnische Grenzwache oder das Militär, sehen sich diese gezwungen, die Personen den Asylantrag ausfüllen zu lassen, sonst werden alle brutal zurückgeschickt.“ Versuche zum Überwinden der „Mauer im Wald“ und jetzt des Stacheldrahts wiederholen sich ständig. Das Militär ist da: Lange LKW-Schlangen und Hubschrauber über unseren Köpfen.

Nicht alles verläuft reibungslos! In Ostrow Mazowiecka, wird unser Auto von einer Polizeipatrouille angehalten, Rut wird erkannt aufgrund der verlangten Unterlagen, und es geht nicht weiter. Es folgt eine Auseinandersetzung über Rechte und Pressefreiheit, nichts zu machen, wir fahren zurück. Aber noch mehr Tränen, Wut und Frustration brechen durch, als die Freundin fragt, zu was denn ein Gastgeber eigentlich verpflichtet wäre: „Warum haben dies jungen Menschen, Frauen und Kinder wie wir so ein Schicksal haben? Auch wir Aktivist*innen wissen davon kaum etwas und vielleicht – um ehrlich zu sein – wollen wir gar nichts davon wissen. Wir konzentrieren uns nur darauf, ihr Leben im Wald zu retten, dringende humanitäre Hilfe zu leisten. Aber wie mein Freund, Fotograf und Journalist Karol Grygoruk sagt „wir kleben nur ein Pflaster auf eine riesige offene Wunde.“ Und wir haben alle Angst, auch wenn wir nichts Illegales tun.

Wieder zurück in Warschau, setze ich mich sofort mit Sarian Jarosz in Verbindung, der für das Büro von Amnesty International arbeitet. Er bestätigt mir, dass die Gruppe Granica am 10.November 2021 am internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Anklage erhoben hat wegen illegaler Rückführung und Verweigerung von Asyl seitens belarussischer und polnischer Autoritäten. Amnesty Polen hat bereits einen Bericht verfasst über die Kriminalisierung von Menschenrechtsverteidiger*innen, die im Grenzbereich arbeiten.

Neben diesen Gruppen tauchen aber inzwischen immer mehr extrem rechte Gruppen auf, die junge Leute mit dem Kreuz in der Hand angreifen und am 14. November die Autos der Ärzte ohne Grenzen zerstört haben.

Ich treffe Iwo Los, einen Soziologe, der seine akademische Karriere ruhen lässt, um als Sprecher von Granica zu fungieren und der auf eine lange Erfahrung mit syrischen Geflüchteten in Griechenlands Lagern zurückgreifen kann. „Im September/Oktober auf der Spitze der Krise (schon ungefähr 3000 saßen in der Falle im Wald, unter ihnen 100 Kinder) hatten wir es auf der einen Seite mit großer politisch motivierter Manipulation der Ängste der Menschen zu tun, auf der anderen Seite haben Anwohner der Grenzregion – nachdem sie Migrant*innen von Angesicht zu Angesicht erlebt hatten – diesen ihr Haus geöffnet durchaus im Bewusstsein der Gefahr, dass sie denunziert werden konnten. Aber die Kampagne, die der Anwalt Kamil Syller initiiert hat, zu sagen „ich nehme dich auf“ hat Fortschritte gemacht.

Reise an die polnische Grenze

(Bild: Annalisa Milani)

Iwo bestätigt mir in seiner Analyse aus Sicht eines Europäers, dass „möglicherweise die Pol*innen mehr Angst hatten vor Migrant*innen, die über die russische Grenze kommen (es gibt aus der Geschichte noch zu viele offene Wunden in Erinnerung an die russische Besatzung). Aber eine junge Generation in Polen denkt europäisch und fordert einen anderen Umgang mit Außengrenzen und vor allem keine Mauern. Und es gibt auch einen Teil der Katholiken, leider noch in der Minderheit, wie z.B. der Klub Intelligencij Katoliskieij (KIK), die Hilfsprogramme und Aufnahme organisieren.

Als ich ganz ohne Grenzen nach Italien zurückreise, denke ich wieder an das was Iwo erzählt hat:

„Als ich die Jungen im Wald getroffen habe, verstand ich, dass sie meine Freunde sein könnten, sie trugen die gleichen Jeans, rauchten die gleichen Zigaretten , nutzten Social Media wie ich, hatten die gleichen Träume“.

Test von Annalisa Milani erschienen auf Italinisch unter dem Titel „Viaggio al confine polacco“ in „Vita del popolo“.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Heidi Meinzolt vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!

Der Originalartikel kann hier besucht werden