Über Corona-Maßnahmen und die Illusion von Sicherheit durch Digitalisierung

Mit Corona hat die Digitalisierung des Alltags einen Schub bekommen, der kaum noch rückgängig zu machen sein wird. Vor allem im Umgang mit persönlichen Daten verändert sich vieles, was jedoch schon lange vor Corona begonnen hat. Gab es gegen die Volkszählung 1987 noch umfangreiche Proteste, geben die meisten heute regelmäßig sehr viel mehr und sehr viel persönlichere Daten preis. Das Surfen im Internet funktioniert nur, wenn auf fast allen Seiten ungeprüft irgendwelchen Datenerfassungen und Datenschutzerklärungen zugestimmt wird. Facebook und Whatsapp beobachten jede digitale Bewegung und werten sie aus. Die „Datensammelwut“ potenziert sich, je mehr die Kommunikation ins Digitale verlagert wird.

Mit Apps, die Schritte zählen oder den Blutdruck messen, haben sich schon lange vor Corona immer mehr Leute freiwillig selbst überwacht. Die sogenannten Wearables, am Körper zu tragende Datenerfassungsgeräte, ersetzen das eigene Gefühl für den Körper, an die Stelle des Vertrauens in die eigene Wahrnehmungsfähigkeit tritt kalte Technik. Statt lebendiger Körperlichkeit definiert scheinbar objektive Rationalität, was gesundheitlich gut oder wünschenswert ist – oder nicht. Diese massenhaft erfahrene Entfremdung von sich selbst spiegelt sich in gesellschaftlichen Entfremdungs- und Entkörperlichungsprozessen, die durch Corona einen zusätzlichen Verstärker bekommen haben. Der Atem des anderen kann meinen Tod bedeuten, umgekehrt stellt mein Körper eine potenziell tödliche Bedrohung für andere dar. Ob sich solche angstgesteuerten Vorstellungen und Distanzierungen je wieder heilen lassen?

Digitalisierung der Medizin

Die Bundesregierung und die Krankenkassen propagieren bereits seit Jahren die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Immer mit dabei ist die Bertelsmann Stiftung. Mit ihrem Projekt „Der digitale Patient“ möchte sie „neue technologische Ansätze in den Dienst der Gesundheit“ stellen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Einsatz der sogenannten Künstlichen Intelligenz (KI), die keinesfalls intelligent ist, sondern allein aufgrund von Algorithmen, die von Menschen programmiert wurden, Schlussfolgerungen aus großen Datenmengen zieht. Es werden beispielsweise Apps entwickelt, die anhand des Hustens oder sogar der Sprache erkennen sollen, ob eine Person an Corona erkrankt oder infiziert ist.

Am 6. Mai beschloss der Bundestag das „Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz“ (DVPMG). „Wir erleichtern den Zugang zur Videosprechstunde, entwickeln die elektronische Patientenakte und das E-Rezept weiter“ erläuterte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Nur einen Tag zuvor hatte sich der 124. Deutsche Ärztetag gegen das Gesetz ausgesprochen. Die „weitgehende Neuausrichtung des Gesundheitswesens“ sei „überstürzt und ohne Beteiligung von Patienten und Ärzten vorgenommen“ worden. Die ärztliche Schweigepflicht werde durch zentrale Online-Datenspeicher torpediert.

Als im letzten Jahr die Corona-App der Bundesregierung verfügbar war, luden sie sich Millionen auf ihr Smartphone. Datenschutzbedenken schienen ausgeräumt und es überwog der Wunsch, sich selbst und andere vor der politisch und medial allgegenwärtig gehaltenen Bedrohung zu schützen. Während die Corona-App zunächst anonym funktioniert, erfragt die Luca-App des privatwirtschaftlichen Unternehmens Culture4life GmbH persönliche Daten, speichert sie zentral und ermöglicht den direkten Kontakt mit dem Gesundheitsamt. Wer kein Smartphone hat, kann sie mit einem Schlüsselanhänger nutzen. Bald wurden allerdings Fehlfunktionen und Sicherheitslücken bekannt, so dass der Chaos Computer Club den „sofortigen Stopp“ und eine Überprüfung durch den Bundesrechnungshof forderte, denn die App wurde für Millionenbeträge von vielen Bundesländern eingekauft.

Die Verbraucherzentralen warnen vor Fake-Apps, die nur Daten sammeln. 77 WissenschaftlerInnen kritisierten, dass auf der Basis von Luca weitere Geschäftsmodelle entwickelt würden. So entstehe „eine Abhängigkeit von einem einzelnen Privatunternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht als Betreiber des Systems“. Sie warnen: „Wird die App Voraussetzung, um am öffentlichen Leben teilnehmen zu können, oder gar von Corona-Schutzverordnungen vorgegeben, ist die Freiwilligkeit nicht gegeben, da ein De-facto-Nutzungszwang entsteht.“

Corona-Tests als Eintrittskarte

Auch das Testen auf Corona ist nur begrenzt freiwillig, denn ein tagesaktueller Test ist an vielen Orten die Voraussetzung des Zugangs. Außerdem sind die dabei erhobenen Daten keineswegs geschützt. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 18. März unter Berufung auf Rechercheergebnisse der Gruppe Zerforschung: „136.000 dieser Testergebnisse standen wochenlang ungeschützt im Netz.“ Schon im August letzten Jahres waren 44.000 Testergebnisse von Reiserückkehrenden in Bayern verloren gegangen.

In diesen Fällen war es wohl „nur“ ein Mix aus verantwortungsloser Geschäftemacherei, Unkenntnis und Schlamperei. Aber selbst bei bestem professionellem Bemühen gibt es keine hundertprozentige Sicherheit im Internet. In einem fortlaufenden Aufrüstungswettbewerb laufen DatenschützerInnen den Angreifern hinterher und versuchen immer neue Schlupflöcher abzudichten. Wenn es nicht gelingt, kann großer Schaden angerichtet werden. So war beispielsweise das Berliner Kammergericht monatelang arbeitsunfähig und es entstand ein Millionenschaden, nachdem seine Rechner im Herbst 2019 von einem Trojaner befallen wurden. Auch die Berliner Humboldt-Universität wurde angegriffen, konnte sich jedoch besser schützen.

Mit zunehmender Digitalisierung nehmen auch die Risiken zu. So fanden im März dieses Jahres JournalistInnen des Bayerischen Rundfunks Datenlecks in der bundesweit genutzten Lern-App Anton. Einsehbar waren „Vor- und Nachnamen von Schülerinnen und Schülern, außerdem Informationen zu Lernfortschritten, Klassen- und Schulzugehörigkeit und zu welchen Uhrzeiten sie eingeloggt waren“. Es wäre sogar „für Außenstehende theoretisch möglich gewesen, sich als Lehrkraft auszugeben und Nachrichten an Schülerinnen und Schüler in Lerngruppen einzustellen“.

Datensicher einkaufen?

An vielen Kassen wird darum gebeten, aus Infektionsschutzgründen auf Barzahlung zu verzichten. Allerdings überträgt sich Corona über Tröpfchen und Aerosole, es ist keine Schmierinfektion. Folgerichtig bezeichnet die Nichtregierungsorganisation Digitalcourage die Aufforderung als „Quatsch“, denn bargeldloses Zahlen habe „wenig Sinn für den Infektionsschutz, aber zugleich viele Risiken für uns als Verbraucher“. Mit jedem Geldfluss über Karten und Konten würden Datenspuren gelegt.

Der ohnehin zunehmende Onlinehandel, mit erheblichen Belastungen für Verkehr und Umwelt, ist mit Corona deutlich angewachsen. Nach Angaben der Statista GmbH stieg der Online-Umsatz in Deutschland 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 23 Prozent auf fast 73 Milliarden Euro. Wie überall gibt es auch dort Probleme mit der Datensicherheit. So fand die Gruppe Zerforschung die Bestelldaten der letzten Monate des Berliner Lieferdienstes Flink, und auch beim Berliner Start-up Gorilla waren Millionen Bestelldaten öffentlich einsehbar.

Kleine Unternehmen und Selbstständige haben besonders unter der Corona-Krise zu leiden und viele fürchten um ihre Existenz, währen die Großen gewinnen. Der größte Gewinner ist Amazon. Seinen Gewinn konnte der Konzern im ersten Quartal 2021 gegenüber dem ersten Quartal des Vorjahres verdreifachen, auf 8,1 Milliarden Dollar – auch auf Kosten der Beschäftigten, denn das Unternehmen ist für seine schlechten Arbeitsbedingungen bekannt. Medienberichten zufolge haben im Februar drei ehemalige leitende IT-Mitarbeiter über fehlenden Datenschutz bei Amazon informiert. Aufgrund ihrer Warnungen seien sie „entlassen oder aus dem Unternehmen gedrängt worden“ (Heise online, 25.3.2021).

Menschen werden zur Nummer

Mit dem neuen Registermodernisierungsgesetz (RegMogG) „wird die Steuer-Identifikationsnummer als ein übergreifendes ‚Ordnungsmerkmal‘ für besonders relevante Register eingeführt, zum Beispiel das Melderegister, Personenstandsregister und Fahrzeugregister“, erläutert die Bundesregierung. Dies soll der Durchsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) dienen, das Bund und Länder verpflichtet, „ihre Verwaltungsleistungen auch elektronisch über Verwaltungsportale anzubieten“.

Digitalcourage hat der Bundesrepublik Deutschland für das Vorhaben einer lebenslangen Personenkennziffer den Big Brother Award 2020 in der Kategorie „Geschichtsvergessenheit“ verliehen. Laudator Padeluun führt zur Begründung an, dass es solche Personenkennziffern auch  im Nazideutschland und in der DDR gegeben habe. „Sie widersprechen dem Geist des Grundgesetzes.“ Das Bundesverfassungsgericht habe solche Vorhaben bereits mehrfach abgelehnt. Padeluun erwähnt einen Nationalen Normenkontrollrat, „der ein von McKinsey & Company ausgearbeitetes Gutachten vorstellte, mit dem Fazit, es bräuchte ein ‚Registermodernisierungsgesetz‘, damit ließen sich 6 Milliarden Euro einsparen“. Dies sei ein „Verbrechen gegen das Grundgesetz“, und die „sechs Milliarden Euro, die es offenbar kostet, Verwaltungsdatenbanken getrennt verwalten zu lassen, sind gut investiertes Geld, um die Bevölkerung vor dem Staat zu schützen. Und diesen Schutz braucht es nicht nur, wenn noch mehr Faschisten in die Parlamente kommen, sondern auch und gerade, wenn sich dort lupenreine Demokraten tummeln.“

Noch weiter soll das Gesetz zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters gehen, für das bereits ein Entwurf vorliegt. Digitalcourage kritisiert, für die Bundesregierung „scheint der Datenschutz für Menschen ohne deutschen Pass nicht zu zählen“, wenn neben den persönlichen Daten auch „intime Details wie sexuelle Orientierung, Religionszugehörigkeit, politische Ansichten und Fluchtgeschichten“ zentral erfasst werden sollen. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl protestiert: „Politisch ist der Gesetzentwurf unerträglich. BAMF-Bescheide, Gerichtsentscheidungen, Stellungnahmen über Gesundheit oder Reisefähigkeit und sonstige persönliche Unterlagen haben in einem zentralisierten, zum Abruf freigegebenen Register nichts, aber auch gar nichts verloren.“

Vielleicht ist das ein erster Schritt zur Einführung der ID2020, einer digitalen biometrischen Identität für alle Menschen weltweit, die laut Deutschlandfunk von einer „Allianz von Hightech-Konzernen wie Microsoft und Accenture, der Rockefeller-Stiftung, großer Hilfsorganisationen wie Mercy Corps, Care und der von Bill Gates finanzierten Impfallianz Gavi“ angestrebt wird. Sie soll allen Menschen ermöglichen, jederzeit ihre Herkunft, Ausbildungsgänge, Krankheiten et cetera nachweisen zu können – angeblich ganz selbstbestimmt. Jedoch fordert Gates bereits, eine biometrisch nachzuweisende Coronaimpfung müsse „Voraussetzung werden für grenzüberschreitendes Reisen“ (Deutschlandfunk Kultur, 19.10.2020).

Körperlose Begegnungen

Seit persönliche Treffen aufgrund der Corona-Maßnahmen stark eingeschränkt und für größere Gruppen gänzlich unmöglich geworden sind, gehören Videokonferenzen für immer mehr Leute zum Alltag. Es ist ja auch so bequem, mensch muss nirgendwo mehr hinfahren, kann gemütlich zu Hause sitzen und sich mit anderen austauschen, egal ob diese anderen irgendwo in der Nachbarschaft, in einer anderen Stadt oder auf der anderen Seite der Welt sitzen.

Die Kommunikation bekommt dadurch jedoch einen anderen Charakter. Sie wird distanziert, körperlos, Menschen erfahren einander nur noch sehr eingeschränkt. Die Wahrnehmung reduziert sich auf Worte (die nicht immer gut zu verstehen sind) und auf das flache Format des Bildschirms. Körpersprache ist nur noch sehr eingeschränkt möglich, das körperliche Aufeinander–bezogen-Sein zwischen allen Teilnehmenden als Gruppe, das Sich-im-Raum-Bewegen und die informelle Interaktion fallen weg, es gibt keine Pausengespräche mehr (die virtuellen „Breakout-Rooms“ bieten kaum einen Ersatz dafür) und vor allem ist kein persönlicher Augenkontakt mehr möglich, der doch auch ohne Worte so viel sagen kann.

Aus der digitalen Welt gibt es kein Entkommen. Dabei soll nicht bestritten werden, dass all die neuen Kommunikationsmöglichkeiten auch emanzipatorische Potenziale haben. So wäre beispielsweise die Organisation der aktuellen Reise von ZapatistInnen aus dem mexikanischen Chiapas nach Europa ohne digitale Kommunikation zumindest sehr schwierig. Die munizipalistischen Bewegungen, die sich in Barcelona und anderen spanischen Städten für selbstorganisierte Kommunalpolitik einsetzen, nutzen die Software Decidim, die eigens für Diskussionen, Zusammenarbeit und Abstimmungen in der Bevölkerung programmiert wurde. Für Menschen auf der Flucht ist das Smartphone ein lebenswichtiges Werkzeug, mit dem sie Kontakt zu Angehörigen halten sowie Informationen und Hilfe bekommen können. Das selbstorganisierte Callcenter Alarm Phone, das Notrufe von Schutzsuchenden auf dem Mittelmeer entgegennimmt, wäre ohne Smartphone nicht möglich.

Von individuellen Abhängigkeiten zu globalen Machtfragen

Im Alltag haben die digitalen Welten ein erhebliches Suchtpotenzial. Sie laden dazu ein, den Anforderungen und körperlichen Herausforderungen des Lebens zu entfliehen und dabei das Gefühl zu haben, es sei sehr wichtig, „mal eben noch“ etwas zu suchen oder Nachrichten zu checken und zu beantworten. Umso wichtiger sind Auszeiten. Es geht darum, sich auf die Wahrnehmungen der eigenen Sinnesorgane zu verlassen, den Botschaften des Körpers nachzuspüren, die Welt direkt zu be-greifen und nicht nur am Bildschirm anzuschauen – und eigene Schlussfolgerungen aus all dem zu ziehen.

Überwachung und Datenausbeutung findet in nahezu allen Lebensbereichen statt. Gerade diskutierte der Bundestag über den „Staatstrojaner“, eine Software, mit der digitale Kommunikation überwacht werden kann. Privatwirtschaftliche Anbieter digitaler Dienstleistungen sammeln Daten ohne jede demokratische Legitimation. Neben der Pharmaindustrie gehören die Digitalkonzerne zu den Gewinnern der Corona-Pandemie. Umso wichtiger ist es, der zunehmenden Privatisierung aller Lebensbereiche einen Riegel vorzuschieben. Die Alternative ist jedoch nicht Verstaatlichung, sondern die Überführung digitaler Infrastrukturen in öffentliche demokratisch kontrollierte Hände.

Von Elisabeth Voß aus DER RABE RALF Juni/Juli 2021, Seite 16/17 und auf Grüne Liga Berlin veröffentlicht.

Mit der digitalen Umgestaltung der Städte befasste sich die Autorin in der Oktober-Ausgabe 2019 mit ihrem Beitrag „Smart City: Utopie oder Alptraum? In Berlin wächst die Infrastruktur für den neuen Mobilfunkstandard 5G“.

Der Originalartikel kann hier besucht werden