Ukrainischer Präsident fordert nach Vorstoß des Grünen-Parteichefs deutsche Waffenlieferungen. Bundeswehr-Dozent warnt vor Kriegseskalation.

Die Bundesregierung erteilt der Forderung nach der Lieferung von Waffen an die Ukraine vorerst eine offizielle Absage. Er sei davon „überzeugt, dass der Konflikt nur auf politischem Wege gelöst werden kann“, erklärte Außenminister Heiko Maas am gestrigen Dienstag: „Das sollte allen Beteiligten klar sein. Waffenlieferungen helfen dabei nicht.“ Zuvor hatte – anknüpfend an das Plädoyer von Grünen-Parteichef Robert Habeck, etwa gepanzerte Fahrzeuge oder Geräte für den Drohnenkrieg nach Kiew zu liefern – der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij in einer führenden deutschen Tageszeitung für den Export deutscher Sturmgewehre und deutscher Patrouillenbooten geworben. Der ukrainische Botschafter in Berlin hatte im April gedroht, Kiew könne bei ausbleibender Unterstützung „über einen nuklearen Status“ nachdenken. Andere EU- und NATO-Staaten beliefern die Ukraine längst mit Kriegsgerät. Auch in Deutschland nimmt der Druck im außenpolitischen Establishment inzwischen zu; dabei betätigen sich Politiker von Bündnis 90/Die Grünen als Eisbrecher in der Öffentlichkeit.

Krieg „wegen Auschwitz“

Führende Politiker von Bündnis 90/Die Grünen hatten sich bereits Anfang 2015 für die Lieferung von Waffen an die Ukraine ausgesprochen – dies, nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel die Forderung mehrfach explizit zurückgewiesen hatte. „Deutschland wird die Ukraine mit Waffen nicht unterstützen“, hatte Merkel etwa am 2. Februar bekräftigt: „Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Konflikt militärisch nicht gelöst werden kann.“[1] Widerspruch kam damals vor allem von Marieluise Beck, zu jener Zeit Grünen-Bundestagsabgeordnete, die etwaige Waffenlieferungen ausdrücklich mit den deutschen Aggressionsverbrechen im Zweiten Weltkrieg zu legitimieren suchte – ähnlich dem früheren grünen Außenminister Josef Fischer, der den völkerrechtswidrigen Überfall auf Jugoslawien im Jahr 1999 unter Rückgriff auf die Parole „Nie wieder Auschwitz“ rechtfertigt hatte. Beck äußerte am 9. Februar 2015 mit Blick auf die militärische Gegenwehr der vom NS-Reich überfallenen Staaten und der USA, Deutschland trage „schuld daran, dass die Welt lernen musste, sich verteidigen zu können und sich verteidigen zu dürfen“; deshalb solle man der Ukraine Waffen nicht verweigern. Beck ergänzte dies noch um den Aufruf, „Empathie für die Opfer“ zu zeigen.[2]

Gerät für den Drohnenkrieg

Auch diesmal preschen Grünen-Politiker vor. Nach seiner ersten Äußerung, man dürfe der Ukraine „sogenannte Defensivwaffen“ nicht verweigern“ [3], hat Grünen-Parteichef Robert Habeck noch vergangene Woche nachgelegt und seine Forderung präzisiert. Demnach sollen zum Beispiel Nachtsichtgeräte und „Aufklärungsmittel“ geliefert werden; beides ist auch für Angriffsoperationen unverzichtbar.[4] Habeck sympathisiert zudem mit der Lieferung gepanzerter Fahrzeuge, die er nur „zum Verletztentransport von der Front zurück“ genutzt sehen will; freilich werden gepanzerte Fahrzeuge auch für Offensiven benötigt und sind selbst bei einer Beschränkung auf Transporte von Verletzten Teil üblicher Angriffsoperationen. Der Grünen-Parteichef plädiert zudem dafür, Gerät zum Kampf gegen Drohnen bereitzustellen, räumt allerdings selbst ein, dieses könne auch für Attacken auf den Gegner („nach vorne schießen“) genutzt werden.[5] Habeck ordnet die geforderte Lieferung von Kriegsgerät offen als Teil des westlichen Machtkampfs gegen Russland ein: „Die Ukraine verteidigt auch die Sicherheit Europas“. Sogar einen NATO-Beitritt der Ukraine schließt er nicht aus: Lediglich „im Moment“ könne man „das nicht machen“; „da muss die Ukraine geduldig sein“.

„Über nuklearen Status nachdenken“

Habeck und die Grünen betätigen sich mit ihren Forderungen faktisch als Eisbrecher für die Regierung der Ukraine, die immer energischer deutsche Waffenlieferungen fordert – und damit zunehmend in deutschen Leitmedien durchdringt. Bereits Mitte April behauptete der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, in einem Deutschlandfunk-Interview, „der Kreml“ trachte danach, „die Ukraine als Staat und Volk auszulöschen“. Kiew benötige deshalb „nicht nur … Solidaritätsbekundungen“, sondern „modernste Waffensysteme“, auch aus Deutschland. Sonst sei die Ukraine womöglich gezwungen, „über einen nuklearen Status … nachzudenken“.[6] Am gestrigen Dienstag hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachgelegt. Selenskij wünscht sich demnach aus Deutschland „Sturmgewehre, Funkausrüstung – viele Dinge“, nach Möglichkeit gepanzerte Militärfahrzeuge – und er hat Kriegsschiffe im Visier. „Deutschland hat großartige Schiffe“, erklärt der ukrainische Präsident: „Schnellboote, Raketen-Schnellboote, Patrouillenboote.“[7] Die Ukraine benötige dringend in großem Umfang „letale Waffen“ – und zwar auch aus der Bundesrepublik.

Raketen, Patrouillenboote, Drohnen

Dabei wird die Ukraine längst mit Kriegsgerät aus diversen EU- und NATO-Staaten beliefert. So hat sie etwa im Jahr 2018 50 gebrauchte Schützenpanzer BMP-1 sowie 40 gleichfalls gebrauchte Selbstfahrlafetten aus Tschechien erhalten.[8] Großwaffensysteme im Millionenwert haben laut Angaben des Stockholmer Forschungsinstituts SIPRI etwa auch Polen, Großbritannien sowie Frankreich geliefert. Die hauptsächliche Unterstützung kommt aus den USA. Diese lieferten den ukrainischen Streitkräften im Jahr 2018 210 Panzerabwehrraketen des Typs Javelin; im Jahr 2019 nahmen sie eine Bestellung von 150 weiteren Javelin-Raketen entgegen. Zuvor hatten sie Kiew zwei gebrauchte Patrouillenboote und 30 gebrauchte Panzerfahrzeuge überlassen und 24 Drohnen des Typs AeroVironment RQ-11B Raven an das ukrainische Militär ausgehändigt.[9] Anfang März sagte das Pentagon die Lieferung weiteren Kriegsgeräts im Wert von 125 Millionen US-Dollar zu, darunter zwei Patrouillenboote sowie „Fähigkeiten, um die Tödlichkeit“ ukrainischer Truppen zu erhöhen.[10] Weitere Waffenlieferungen werden in Betracht gezogen. Nicht zuletzt erhält die Ukraine Drohnen des Typs Bayraktar TB2 aus der Türkei; der Typ spielte im Herbst eine herausragende Rolle in Aserbaidschans Krieg gegen Armenien.[11]

Deutschlands Mittlerrolle

Die Bundesregierung ist bislang noch nicht zu Waffenlieferungen an die Ukraine bereit. Er sei „überzeugt“, der Konflikt in der Ostukraine könne „nur auf politischem Wege gelöst werden“, teilte Außenminister Heiko Maas gestern mit: „Waffenlieferungen helfen dabei nicht.“ Ein Motiv dafür nannte am Montag Gabriela Heinrich, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion: Berlin verlöre mit Waffenlieferungen seine einflussreiche „Mittlerrolle im Rahmen des Normandie-Formats“.[12] Allerdings nimmt der Druck aus dem außenpolitischen Establishment zu, in der Ostukraine zu neuen, aggressiveren Mitteln zu greifen, um endlich Fortschritte im Einflusskampf gegen Russland zu erzielen. Erst kürzlich hieß es bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die EU könne „eine entmilitarisierte Zone zwischen der Ukraine und Russland“ fordern – mit dem Ziel, „beide Seiten zu entwaffnen“.[13] Bereits im vergangenen Jahr hieß es aus dem Zentrum liberale Moderne (LibMod), einer Denkfabrik einst einflussreicher Grünen-Politiker, die EU solle die „militärische und rüstungsindustrielle Kooperation“ mit den Staaten ihrer „Östlichen Partnerschaft“ – Georgien, Moldawien, Ukraine – intensivieren: Sie könne Mittel zur Beschaffung von Rüstungsgerät aus europäischer Produktion bereitstellen und, insbesondere in der Ukraine, einheimische Waffenschmieden unterstützen.[14]

„Der Krieg würde eskalieren“

Wozu die Umsetzung dieser Forderungen führen kann, für die sich nun erneut Grünen-Politiker als Eisbrecher betätigen, hat vor wenigen Tagen Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Münchener Universität der Bundeswehr, beschrieben: „Die Gefahr ist eben, dass diese Waffen dorch für offensive Operationen eingesetzt werden“, „was dann sicherlich eine massivere russische Antwort bedeuten würde“: „Der Krieg in der Ostukraine würde also nochmals eskalieren. Diese Gefahr ist durchaus existent.“[15]

 

Mehr zum Thema: Der grüne Kalte Krieg, Damit Gewehre schießen und Zuckerbrot und Peitsche.

 

[1] USA wollen keine Waffen liefern. deutschlandfunk.de 03.02.2015.

[2] Stefan Braun: Osteuropa-Expertin der Grünen kritisiert prinzipielles Nein zu Waffenlieferungen. sueddeutsche.de 09.02.2015.

[3] S. dazu Zuckerbrot und Peitsche.

[4], [5] „Die Ukraine fühlt sich sicherheitspolitisch alleingelassen“. deutschlandfunk.de 26.05.2021.

[6] Ukrainischer Botschafter: „Wir brauchen militärische Unterstützung“. deutschlandfunk.de 15.04.2021.

[7] „Deutschland könnte uns militärisch helfen“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.06.2021.

[8], [9] bicc Länderinformation: Ukraine. Bonn, Januar 2021.

[10] Aaron Mehta, Howard Altman: US announces $125 million in military aid for Ukraine. defensenews.com 01.03.2021.

[11] S. dazu Vorbereitung auf den Drohnenkrieg.

[12] Selenskyj wünscht sich Schiffe, Gewehre und Fahrzeuge von Berlin. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.06.2021.

[13] S. dazu „Frieden mit Russland keine moralische Pflicht“.

[14] Gustav C. Gressel: The Eastern Partnership’s missing security dimension. LibMod Policy Paper. Berlin, June 2020.

[15] Thorsten Jungholt: „Spitzenpolitiker mit unkonventionellen Ideen werden sofort zurückgepfiffen“. welt.de 27.05.2021.

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