Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro sagt, seine Regierung sei „führend in der Erhaltung des Regenwalds” und gibt den Indigenen, der Presse und den NGOs die Schuld an den verheerenden Bränden. Die Daten des brasilianischen Instituts für Weltraumforschung (INPE) identifizieren bis einschließlich 26. September dieses Jahres 73.459 Brand-Hotspots allein in Amazonien. Das sind 12 Prozent mehr als letztes Jahr – dem Jahr mit den schlechtesten Zahlen seit über einem Jahrzehnt.

Der größte Anstieg im Jahr 2020 wird im Pantanal beobachtet, wo 16.667 Brandherde gemeldet wurden. Die Zahl ist mehr als dreimal so hoch wie 2019 (5.891 Brandherde). Auffällig ist auch das Szenario im Cerrado, dem Savannengebiet im Inland Südost-Brasiliens: Zwischen Januar und September wurden dort 42.921 Brände gemeldet.

„Es ist unglaublich, was in diesem Jahr passiert.“

Felipe Milanez, Politik- und Umweltkonfliktforscher und Professor an der Universidade Federal de Bahía (UFBA), meint, dass nicht einmal diese Zahlen über die Zerstörung brasilianischer Ökosysteme die Dimension der „Tragödie“ abbilden, die das Land derzeit erlebt: „Es ist unglaublich, was in diesem Jahr passiert. Die Zahlen können das Ausmaß der Tragödie, die sich hier abspielt, nicht beschreiben. Weder bildlich und physisch. Weder für diejenigen, die vor Ort sind und diese Apokalypse noch einmal erleben, noch für diejenigen, die die Kritik nicht hören wollen und sich darüber lustig machen. Bolsonaro lachte über die Zerstörung im Pantanal, darum geht es ihm“, so Milanez.

Milanez beobachtet Amazonien, das Pantanal und das Cerrado seit fast 20 Jahren und warnt davor, dass – entgegen der Aussagen des Präsidenten – „Brände schon immer vorgekommen sind“, die Situation jetzt aber „viel schlimmer“ sei. Er glaubt, die Brände und die Umweltzerstörung werden von der Regierung öffentlich genehmigt. Der Experte vergleicht Bolsonaro mit dem römischen Kaiser Nero, bekannt für eine der tragischsten Ereignisse in der Geschichte der italienischen Stadt Rom, in der die gesamte Stadt eine Woche lang von einem Feuer verwüstet wurde. Einigen Historikern zufolge legte der Tyrann Nero selbst das Feuer, um die Stadt nach seinen Vorstellungen wiederaufzubauen.

„Die aktuellen Brände ähneln vielleicht denen von vor 20 Jahren, aber jetzt werden sie offen befürwortet. Wenn es in den frühen 2000er Jahren viele Brände gab, dann gab es zumindest eine Reaktion. Was wir jetzt haben, ist eine Regierung, die das Feuer unterstützt, legitimiert und autorisiert. Bolsonaro ist der Nero der Brände in Amazonien. Das Ausmaß der Zerstörung ist viel  schlimmer, sie zerstören alles“, sagt Milanez im Interview:

Sie verfolgen die Brände in Amazonien seit 2006 und haben verschiedene Regionen des Landes besucht. Wie bewerten Sie das Szenario jetzt, wo Amazonien seit Beginn der Dürre im August schneller brennt als in den vergangenen Jahren?

Mir kommt es gerade vor, als würde ich die schlimmsten Momente meines Lebens noch einmal erleben. Als ich 2006 begann, bei der Indigenenorganisation FUNAI zu arbeiten, war ich auf einer Forschungsreise in Rondônia, einem Gebiet, in dem Indigene abgeschieden leben. Ich erinnere mich daran, dass ich den Himmel nicht sehen konnte. Das war zu dieser Jahreszeit, zwischen August und Oktober, der trockensten Zeit des Jahres. Ich weiß noch, der Himmel war grau, vorher war es noch schlimmer, sagte man mir. 2007 war ich dann mit dem Umweltinstitut ISA im Norden von Mato Grosso und ich erinnere mich, wie ich am Himmel lauter Rauch sah. Das war in einer Stadt mit einer der höchsten Entwaldungsraten.

Damals glaubten wir allerdings, dass ein Anprangern und das Entlarven dieser Situation in der Presse Effekte haben würde – etwa ein Einschreiten der Bundespolizei und des IBAMA (Brasilianisches Institut für Umwelt und erneuerbare natürliche Ressourcen) provozieren würde. Es wurde immer noch darüber gestritten, ob der Staat stark genug wäre, um in diesen Regionen einzugreifen. Und es gab eine Debatte über Satellitentechnologie und den Einsatz von Hubschraubern für die Expeditionen. Und dann plötzlich waren die Brände rückläufig.

Im Jahr 2012 und 2013 ging ich im Süden von Pará spazieren und gewöhnte mich an die grünen Wiesen. Niemand hat Feuer gelegt, weil es Repressionen gab, Geldstrafen. Nach dem Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016 hat sich die Situation grundlegend verändert. Mit dem Aufstieg des Bolsonarismus und dem Erstarken dieses rechtsextremen Denkens verschärfte sich die Situation tragisch.

Was den Erfolg der Ultrarechten angeht: Wie erklären Sie sich die Haltung der Menschen in Amazonien, die diese Regierung befürworten, aber genauso von ihr benachteiligt werden?

Ich glaube, man muss da differenzieren. Zwischen den Anführern der Ultrarechten, des Faschismus – Trump und Bolsonaro zum Beispiel – und denjenigen, die mit dieser Ideologie Geld verdienen und sich nicht um den Rest kümmern, auch nicht darum, wer diese arme Person ist, die sich aufgrund mangelnder Information dieser Welle anschließt. Für die ist das beinahe Selbstmord, denn sie bekommt nichts zurück.

Wir haben also einerseits die Verweigerer, die nicht an den Klimawandel glauben, oder die glauben, dass die Technologie uns schon retten wird. Die meisten Armen scheinen skeptisch zu sein und in einer Dystopie zu leben: Wenn sich nichts ändert, wird die Zerstörung akzeptiert und man begnügt sich mit einem Leben am Rande von Unterdrückung, von Gewalt und mit der Perspektive, jemand anderen zu unterdrücken. Das ist Faschismus. Es bedeutet Hass und Freude daran, den anderen sterben zu sehen. Und dann ist man selbst der Jaguar, der Alligator, der schwarze Mann, der Kommunist… man landet in diesen Rollen, und der Dialog wird sehr schwierig. Das ist eine höchst perverse Todesblase. Und wir sprechen hier von einem großen Teil der brasilianischen Bevölkerung.

Die Gringos (US-Amerikaner*innen, Anm. d. Red.) braucht man nicht ermutigen, uns zu retten. Weil Gringos damit auch Geld verdienen. Das Finanzkapital verdient Geld in Amazonien.

Es würde auch nicht genügen, Bolsonaro in Den Haag zu verhaften. Er hätte es verdient, denn wir erleben zur Zeit mit der Pandemie einen Genozid an indigenen und schwarzen Menschen. Nicht nur, weil in Brasilien viele Menschen gestorben sind. Ich bin dafür, dass er in Den Haag verhaftet wird, aber das würde uns nicht befreien. Denn Bolsonaro steckt heute im Herzen der meisten Bewohner Amazoniens, und dort herrscht leider der Wunsch, den anderen zu zerstören und zu vernichten.

Wenn man heute über den Bau einer Straße nachdenkt, sieht man die indigenen Gemeinden und Quilombos nicht als Menschen, die eine Verbindung zur Landschaft haben, sondern oft als ein Hindernis für die Entwicklung. Wie sieht die brasilianische Regierung den Entwicklungsgedanken?

Ich glaube, das ist eines der zentralen Themen in Brasilien seit der Republik, vor allem seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Hauptsächlich nach den 1970ern, während der Militärdiktatur, wurde der Entwicklungsgedanke, der im Fortschrittsgedanken inbegriffen ist, schneller vorangetrieben. Dieser expandierte in überwältigender Weise zu dem Zeitpunkt, als man über Amazonien herfiel.

Amazonien erlebte bereits mehrere Eroberungskriege, es gab vielleicht drei große Invasionen: Während der Zeit der Kolonialisierung – das waren es die ersten Portugiesen mit dem Militär Pedro Teixeira – und dann die Invasion der Kautschuk-Ära, die eine immense Zerstörung durch den Menschen bedeutete. Dann mit der Diktatur, die einen systematischen Mord an der Ökologie und Bevölkerung bedeutete, der in kurzer Zeit zur Zerstörung von 20 Prozent Amazoniens führte.

Der Entwicklungsgedanke ist eine Fortschreibung des Fortschrittsgedankens, eine Vorstellung reiner Kolonialisierung, der Schaffung eines Nordens und einer evolutionären Zivilisationsachse. Die Indigenen und Quilombola-Gemeinschaften waren immer ein Bremsklotz für Fortschritt und Entwicklung, sie haben immer unter einem Eroberungskrieg gelitten. Und weil die indigenen Völker ein Bremsklotz waren, gaben sie 80 Prozent Amazoniens auf. Diese Auffassung hat mit einem rein kolonialen Verständnis zu tun.

In Ihrer Rede sprechen Sie den Begriff der „verbrannten Erde“ an: Zuerst zerstörst du die Erde, dann siehst du zu, wie du damit Geschäfte machen kannst…

Das ist wörtlich gemeint. Es passierte hier in Bahía. Ich erfuhr von einem Historiker mit dem Namen Pedro Puldone, der ein Zusammentreffen arrangierte, das den Indigenen des Sertão im 17. Jahrhundert ein Ende bereiten sollte. Es kam zu einem ungemein gewalttätigen Eroberungsfeldzug, Völkermord und der Plünderung von Land. Sie töten alle und dann schauten sie, wie es weitergeht.

Das ist es, was sie heute wieder tun, es ist eine Politik der verbrannten Erde. Sie sind Piraten und Plünderer, sie haben keine Bindung an das Land. Bolsonaro ist kein Patriot. Er und seine Regierung sind Plünderer, sie versuchen aber, Millionen davon zu überzeugen, dass sie Patrioten sind. Es ist schrecklich, wie dieses Todesgeschwader auch noch verführt.

Gibt es Hoffnung für die Zukunft Amazoniens und für die indigenen Bevölkerungsgruppen im Regenwald?

Ich bin sicher, dass Bolsonaro besiegt werden kann. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Bolsonaro geht. Die Munduruku, Xavantes, Krenak werden bleiben. Und die weißen Brasilianer werden auch bleiben und vielleicht ein anderes Weißsein, eine andere Idee Brasiliens wiederaufbauen. Wir werden von diesen Menschen lernen, um einen anderen Horizont zu gestalten.

Übersetzung: Pia-Felicitas Hawle

Der Originalartikel kann hier besucht werden