In der chilenischen Hauptstadt Santiago herrschen strenge Ausgangsbeschränkungen – eigentlich um die Ausbreitung des Coronavirus zu vermeiden. Mit einem Erlass vom 15. Juni hat die Regierung Piñera auch die Aktivitäten alternativer Medien und kritischer Reporter*innen stark eingeschränkt. Ihre Arbeit gilt demnach als nicht systemrelevant. Ihre Reporter*innen bekommen meist keine Passierscheine, können sich somit nicht bewegen und auch nicht berichten. In einigen Fällen legte die Polizei sogar die bestehenden Regelungen willkürlich aus und schränkte dadurch das Recht auf öffentliche Meinungsäußerung und die Pressefreiheit weiter ein.

So z.B. am 31. Juli, dem Tag, an dem der chilenische Präsident Sebastián Piñera seine jährliche Regierungsansprache hielt und Menschen im ganzen Land dagegen protestierten. Bei einer Kundgebung der Gewerkschaft „Central Clasista“ in Santiago wurde Guillermo Ulloa, einer der Organisatoren, festgenommen – und auch Carlos Escobar, der als Reporter von Radio Plaza de la Dignidad dort war. Er hatte davon berichtet, wie die Polizei die Gewerkschaftskundgebung von Beginn an unterband. Er filmte die Szene – und dabei auch seine eigene Verhaftung.

Reporter filmt seine eigene Verhaftung

Auf der Videoaufnahme ist zuerst zu sehen, wie Polizisten ein beschlagnahmtes Transparent ansehen. Plötzlich kommt ein Polizist auf den – noch filmenden – Reporter zu und fordert ihn auf, mitzukommen. Carlos Escobar sagt, er sei Pressevertreter und habe sich bereits ausgewiesen. Dennoch wird er in das Polizeifahrzeug abgeführt, in dem der Gewerkschafter Guillermo Ulloa bereits sitzt. Er wird aufgefordert, das Handy auszuschalten. Die Tür wird zugeschlagen, die Videoaufnahme stoppt.

Drei Stunden später kommt Carlos Escobar wieder frei. Vor einer Polizeiwache stehend berichtet er erneut: „Ich war als unabhängiger Pressevertreter bei der Kundgebung der Gewerkschaft ‚Central Clasista‘, die von der Polizei unterbunden wurde. Während ich darüber berichtete, wurde ich brutal festgenommen. Der Gewerkschafter und ich wurden auch in dem Polizeifahrzeug bedrängt. Danach wurden wir hierher, auf die 19. Polizeiwache gebracht.“

Festnahme trotz Presseakkreditierung

Im Video ist zu sehen, dass Carlos Escobar seine Pressekarte um den Hals trägt. Er ist Reporter des Bewegungsradios Radio Plaza de la Dignidad und akkreditierter internationaler Korrespondent, da er auch für Medien in Deutschland berichtet. Per Telefon erklärt er, dass er vor der Festnahme bereit kontrolliert worden war: „Ich habe einen gültigen Passierschein, den Presseausweis und meine internationale Akkreditierung vorgezeigt. Die Polizisten hatten nichts zu beanstanden. So begann ich zu filmen und dabei wurde ich festgenommen. Die ganze Zeit über, stundenlang war ich auf der Polizeiwache in Handschellen. Ich durfte weder telefonieren, noch wurde ich über meine Rechte aufgeklärt.“ Beunruhigt berichtet er weiterhin: „Als ich schon wieder frei war, sagte ein Zivilpolizist dem noch auf der Polizeiwache festgehaltenen Gewerkschafter gegenüber, sie wüssten, welche Leute das Radio Plaza de la Dignidad betreiben. Er zählte alle Namen einzeln auf und sagte, dass sie uns beobachten.“

Polizei hat kritische Berichterstattung im Visier

Eine bedrohliche Situation für das Radio Plaza de la Dignidad. Es war 2019 aus der Protestbewegung entstanden, die sich an einer Fahrpreiserhöhung entzündet hatte und unter dem Label „Chile despertó“, also „Chile ist aufgewacht“, monatelang teilweise über eine Million Menschen auf die Straßen zog: für eine neue Verfassung, für mehr soziale Gerechtigkeit, für die Rechte von Frauen und der indigenen Mapuche. Erst Covid-19 bremste die Bewegung aus. Heute finden an vielen Orten wieder Protestaktionen statt, oft treibt der Hunger die Menschen auf die Straße oder sie organisieren Gemeinschaftsküchen, die sogenannten „ollas comunes“. Radio Plaza de la Dignidad berichtet regelmäßig darüber – z.B. mit Videos auf Facebook.

Basismedien berichten über Protestaktionen

„Inzwischen sind wir zu einem der wichtigsten unabhängigen Medien geworden. Und die sind am stärksten von der Kriminalisierung betroffen“, sagt Carlos Escobar, denn: „Die großen, offiziellen Medien werden von mächtigen Unternehmen geführt. Aber die unabhängigen Medien sind diejenigen, die kritisch darüber informieren, was in Chile gerade passiert. Der Druck auf uns ist sehr groß.“

Der Vorwurf gegen Medienaktivist Carlos Escobar und Gewerkschafter Guillermo Ulloa lautet, sie hätten die öffentliche Gesundheit gefährdet – dabei haben beide bei der Demonstration, auf der sie festgenommen wurden, Masken getragen und sich an alle Auflagen gehalten. Die Vereinigung unabhängiger Reporter*innen ARI hat eine Erklärung in Solidarität mit Carlos Escobar nach dessen Verhaftung veröffentlicht. Während der Vorwurf gegen den Gewerkschafter nach Intervention von Rechtsanwälten wieder fallen gelassen wurde, besteht er gegen den Reporter des Bewegungsradios fort. Damit läuft Carlos Escobar weiterhin Gefahr, bei der nächsten Berichterstattung wieder verhaftet zu werden – möglicherweise auch für länger als nur ein paar Stunden.

Doch sein Fall ist nicht der Einzige. Am 9. August wurde in der Stadt Rancagua ein Medienaktivist vom dortigen Radio Manque verhaftet. Er hatte während eines Auftritts von Präsident Piñera gefilmt.

Zu diesem Artikel gibt es auch einen Podcast bei Radio onda.

Der Originalartikel kann hier besucht werden