Die 80er Bewegung im Spiegel des Schweizer Spielfilms.

Gemäss weit verbreiterter Interpretation „brachen“ die Unruhen von 1980 „aus heiterem Himmel“ über Zürich und andere Schweizer Städte „herein“.

Diese Sicht der Dinge lässt sich jedoch nicht halten: Alle wichtigen Themen, Metaphern, Strategien und Umgangsformen der „Bewegung“ finden sich bereits in wichtigen Schweizer Spielfilmen der zweiten Hälfte der 70er Jahre. Diese kündigten den bevorstehenden Aufstand unmissverständlich an. Umgekehrt blieben die direkten Auswirkungen der Unruhen auf das einheimische Spielfilmschaffen nach 1980 vergleichsweise gering.Dies erstaunt kaum, weil die Filmschaffenden der „Bewegung“ damals vorzugsweise auf das neue Videoformat setzten, welches sich viel besser direkt-interventionistisch für die aktuellen Anliegen einsetzen liess. Die kreativen Formen der „Bewegung“ schlugen sich demzufolge kaum im Schweizer Spielfilm nieder. Und über kurz oder lang standen die Produktionen der einstmals „Bewegten“ im Zeichen der neuen Innerlichkeit, welche die 90er Jahre prägen sollte.

Nur Stämme werden überleben: Les indiens sont encore loin (Patricia Moraz, 1977)

Die beiden Gymnasiastinnen Lise und Jenny hängen nach Schulschluss in den Bistros von Lausanne herum. Hier haben sie Guillaume und Matthias kennengelernt, die etwa zehn Jahre älter sind als die beiden Frauen. Die beiden Männer verklären den Aufbruch von 1968 und schwafeln vom bevorstehenden Endkampf (der nicht kommen wird und den sie vermutlich ohnehin in ihren Mansarden verpennen würden). Lise fühlt sich von den Argumenten trotzdem einigermassen angesprochen, vor allem, was die Funktion der Schule als Sozialisierungsinstrument angeht. Doch sie will sich von den 68ern nicht vereinnahmen lassen.

Die sensible Jenny strebt nach mehr. Sie findet auch die Schule nicht dermassen daneben wie ihre Freundin. In der Thomas -Mann-Lektüre sucht sie die Antwort nach dem Absoluten. Doch der Deutschlehrer sieht sein Fach rein akademisch. Jennys Fragen – „Wie lassen sich die Träume und Hoffnungen in dieser Gesellschaft erfüllen?“, „Wo kann sich unter dem Diktat des Mittelmasses Freiheit entwickeln?“-bleiben unbeantwortet. Zuflucht und vorläufigen Bescheid über „den unerreichbaren Ort des unerreichbaren Glücks“ findet Jenny beim Betrachten der Photos der Nambikwara Indianer, die der Ethnologe Claude Levi-Strauss in seinem Buch Tristes tropiques zeigt.

Die Probleme des Quartetts sind indes handfester: Konkret geht es um die Frage, wo man sich nach der Polizeistunde – in Lausanne von 1977 bereits um 23 Uhr – noch trifft. Die Vier vertrödeln ihre Zeit zunächst am Bahnhof. Züge fahren durch die Nacht („Les suisses vont à la gare, mais ils ne partent pas“, fällt einem dazu unvermittelt ein), schliesslich kommt es zum Bruch: Matthias versucht Lise trotz Gegenwehr zu küssen. Kurz danach – es ist mittlerweile drei Uhr morgens – fordert ein Kellner im Bahnhofbuffet Lise auf, ihre Schuhe vom gepolsterten Stuhl zu nehmen. Der bärtige Guillaume stellt sich auf Seite des Kellners („Bedenk‘ doch, ein Proletarier, der morgens um 3 Uhr für dich arbeitet“), doch Lise lässt das Argument nicht gelten: Sie entlarvt den 68er als Kleinbürger.

Anfang der achtziger Jahre wird sie bei „Lausanne bouge“ zweifelsohne mit dabei sein. Für Jenny ist das alles zu abstrakt. Doch ihre Indianer sind, wie der Museumswärter Charles Dé (eine hübsche Referenz an Tanners Film Charles mort ou vif von 1969) bemerkt, noch weit weg. Zu weit, wie sich herausstellt: Als ihre Freunde nicht zur geplanten Jurawanderung erscheinen, sucht Jenny im Schnee den Tod und erfriert im nahen Stadtwald.

Es wird kalt in Bern: Kleine frieren auch im Sommer (Peter von Gunten, 1978)

Kleine frieren auch im Sommer ist bei seinem Erscheinen 1978 allzu eng im Zusammenhang mit der Problematik von Drogen und Beschaffungskriminalität gesehen worden. Im Rückblick ging und geht es um mehr: Zunächst einmal bietet der Film das Vergnügen, die späten 70er Jahre optisch nochmals quasi live zu erleben: Sei es als Blick in die Restaurantküche mit ihren schudderig-orangefarbenen Gängen und Garderobeschränken, sei es als Blick ins Innere einer WG, wo die Matratze selbstverständlich direkt auf dem Boden liegt, unter dem obligaten Seidentuch aus Indien.

Dazu spielt das Kofferradio Mundartrock. Hier ist Platz für (fast) alle: für Max, den arbeitslosen Fixer; für Gérard, der von seinem Vater aus der Vorstadtvilla rausgeschmissen wurde und in dem Max einen potentiellen Stofflieferanten sieht; für Juliette, die als einzige in der Gruppe arbeitet und die vor allem deshalb in der WG bleibt, weil sie Max liebt und ihn aus dem Milieu herausholen möchte; schliesslich für Patricia, die aus dem Gefängnis ausgerissen ist, wo sie wegen eines unbedachten Überfalls einsass.

Die vier Jugendlichen – alle unter zwanzig und aus verschiedenen Motiven zusammenge-kommen – versuchen gemeinsam, durch alternative Lebensweise aus ihrer Isolation auszubrechen und neue Nestwärme zu finden. Ansatzweise befriedigen die Alternativbeizen der Berner Altstadt diese Bedürfnisse. Doch es bleibt beim Ansatz: Die Vermengung von Aussenseitertum und Beschaffungskriminalität treibt die Gruppe immer weiter ins Abseits. Als ein grosser Deal mit geborgtem Geld missglückt, kann der Ausbruch aus der Isolation erst recht nicht mehr gelingen. Max und Gérard kommen ins Gefängnis, Patricia kann flüchten und Juliette wird, da sie schwanger ist, aus der Untersuchungshaft entlassen.

Klimafilm I: Grauzone (Fredi M. Murer, 1979)

Kein Film trifft die Vorabendstimmung der 80er Unruhen präziser als Fredi M. Murers mysteriöse Abhör- und Epidemiegeschichte Grauzone, ein Film, der mit seinem körnigen Schwarzweiss den legendären Züri brännt (1980) punkto Anonymität und Bedrohlichkeit bei Weitem übertrifft. Grauzone steht für vielerlei: Für das Wohnen im Niemandsland zwischen Stadt und Nicht-mehr -Stadt; für konturlose Überbauungen, wo bestenfalls noch via Feldstecher „kommuniziert“ wird; für eine unwirtliche Architektur mit Autobahnzubringern und endlosen staubigen Trottoirs, die nur durch labyrinthische Tiefgaragen und Fussgängerunterführungen zu erreichen sind. Grauzonen aber auch im sozialen Sinn, etwas „in der Mitte zwischen der unteren Oberschicht und der oberen

Unterschicht, also da, wo die überwältigende Mehrheit lebt“, in einem Raum der Unauffälligkeit für „die freiwillig schweigende Mehrheit“ (Fredi M. Murer).

Grauzonen lähmen, bedrohen und höhlen aus, nichts und niemand ist mehr greifbar. Aber sie bieten auch die Möglichkeit der Tarnung und des subversiven Widerstandes: Mysteriös, ungewöhnlich und bedrohlich irritierend tauchen im Film zunächst die Bilder auf, welche die Abhör- und Schnüffelaktionen des Kleinabhörspezialisten Alfred M. begleiten. Fast auf Nebenwegen kommt er einer Epidemie auf die Spur, die schon seit Monaten wütet, von den Behörden aber geschickt verheimlicht wird. Ein Untergrundradio namens „Eisberg“ (!) klärt auf, bevor es vom PTT-Störsender dicht gemacht wird. Doch die UKW Frequenzen sind rasch gewechselt…

Wir wollen alles, und zwar subito!: Messidor (Alain Tanner, 1979)

Messidor war im französischen Revolutionskalender die Bezeichnung für den Erntemonat, und, indem er diesen Namen aufgriff, spielte Alain Tanner auf die Ideale der Alten und Neuen Linken an, welche in der „Schwärze der Zeit versunken sind“. Man hat denn auch im Spielfilm selten eine abweisendere Schweiz zu sehen bekommen als in Messidor. Die Landschaft ist nur mehr verwaltete und zugemauerte Natur, die Schweiz durchgehend ein Zeichenwald, in dem noch der hinterste Fleck markiert ist. Über alles zieht sich, wie ein wucherndes Geflecht, die Autobahn mit ihren drögen Insignien, den Strassenschildern, Ortstafeln, Tankstellen und Strassenmarkierungen. Dieser äusseren Wirklichkeit entspricht die innere Befindlichkeit: Alles ist vorgezeichnet, gespurt, eingeschränkt, verwaltet. Die Allgemeinheit reagiert harsch auf jegliche Abweichung von der Norm und straft AussteigerInnen sofort.

Messidor nahm den Ablauf der Bewegung von 1980/81 gleichsam vorweg: Spielerischer Aufbruch – lustvoller Widerstand – gewaltsame Flucht – polizeiliche Niederschlagung. Die Geschichte: Beim Autostopp treffen sich Jeanne, die studierende Genfer „Stadtmaus“, und Marie, die schüchterne Waadtländer Verkäuferin. Für den Moment ohne Geld und Ziel, wollen die beiden jungen Frauen möglichst lange dem gewohntem Tramp entgehen. Doch bald schon wird aus dem Spiel Ernst.

Jeanne entgeht nur knapp einer brutalen Vergewaltigung, Marie wehrt sich für sie, indem sie einen Vergewaltiger mit einem schweren Stein erschlägt. Zufällig finden die Mädchen eine Offizierspistole. Diese gibt ihnen vorderhand die Möglichkeit, sich besser zu verteidigen und sich auch mit kleinen Überfällen oder Zechprellereien über Wasser zu halten. Die Gesellschaft, durch die Eskapaden der jungen Frauen zunehmend herausgefordert, reagiert mit wachsender Feindseligkeit. In Kürze ist ein polizeilicher Grosseinsatz mit TV-Fahndung lanciert. Jeanne und Marie werden in einer Deutschschweizer Beiz gestellt. Doch sie haben ihren Lehrblätz absolviert…

Schmilzt das Packeis? E nachtlang Füürland (Remo Legnazzi & Clemens Klopfenstein, 1981)

Nach Ausbruch der 80er Unruhen interessierten sich die Bewegten kaum für das Medium Spielfilm, was nicht erstaunt. Für die interventionistischen Zwecke der „Bewegung“ war das neue Videoformat bedeutend zweckmässiger: Billiger, handlicher, schneller vorführbereit und vielseitiger einsetzbar. Die Spielfilme mit einem 80er Hintergrund wurden demzufolge weiterhin von der „älteren“ Generation gedreht.

E nachtlang Füürland mischt Realität und Spielhandlung: Der Alt-68er Max (gespielt von Max Rüdlinger, dem künftigen Berner Stadtneurotiker), ist als Reporter für „Radio Schweiz International“ unterwegs. Er soll über den Neujahrsempfang im Bundeshaus berichten. Die Eröffnungssequenz des Films ist pure Realsatire: Christdemokratisch und scheinheilig spricht Bundespräsident Furgler davon, dass alle Menschen auf Erden das Recht auf „ein bisschen Glück“ hätten, bevor er sich, spitzmündig Champagner sippend, an einen indischen Diplomaten wendet: „Happiness is the most important Ssing“, meint er mit Bezug auf eine Hochzeit in der Familie des Diplomaten. Vor dem Bundeshaus wird derweil für ein autonomes Jugendzentrum demonstriert. Die Stimmung ist fröhlich, die Sonne scheint und eine Guggenmusik begleitet die Demo. Auf dem Weg zurück ins

Radiostudio trifft Max auf einen alten Genossen und Gefährten früherer Jahre, der sich der „Bewegung“ angeschlossen hat. Enthusiastisch rapportiert dieser die neuesten Spray-Inschriften: „Oh du fröhliche, aber subito“, „Klirrende Nacht, Packeis kracht, Christkindli lacht, Grönland erwacht“. Max bleibt den Demos gegenüber skeptisch: „Syt ihr jetz die ganzi Zyt i dr Schdadt umeglaatschet?“

Die Ideale von Max sind zerbrochen, er ertrinkt sein Elend im Kräuterschnaps auf seinen endlosen Beizentouren. Doch dann reisst ihn Chrige, eine junge Bewegte (Christine Lauterburg), aus der Lethargie: Gemeinsam planen die beiden den grossen Coup, mit dem Max aus seinen „Scheiss-Radio“ aussteigen will. Für einmal wenigstens will er wahr über die Demonstrationen berichten und auch die Visionen der Bewegung in seinen Morgennachrichten verlesen: Das Packeis sei geschmolzen, Frühling sei es geworden, das Bundeshaus sei in Sand zerfallen und in der Berner Innenstadt wüchsen Palmen. Doch am Mikrophon verlässt ihn der neu-revolutionäre Überschwang. Max verlässt das Radiogebäude und demoliert verzweifelt, aber sachte sein Auto.

Klimafilm II: Winterstadt (Bernhard Giger, 1981)

Charlie, Schauspieler um die Vierzig und seinerzeit in der Stadt (zufällig ist es Bern) hängengeblieben, hat resigniert. Er hört in sich hinein, doch da ist nichts mehr zu vernehmen. Er hockt sein Leben in den Beizen ab, wo sich die alte Szene und die neuen gescheiterten Revolutionäre eingefunden haben. Doch es gibt keine Beziehungen mehr. Bernhard Gigers Schwarzweissfilm ist eine Klimavermessung. Flimmernde Fernsehapparate, leere Telephonkabinen, Selbstgespräche auf Tonband, eine geschwungene Brücke im Nebel signalisieren allenthalben Kommunikationslosigkeit.

Vermutlich hat man das seelische Trauma, das auf die Niederschlagung der Bewegung folgte, unterschätzt, hat man das Klima der Angst sowie die individuellen und kollektiven Depressionen lange nicht wahrgenommen (nicht wahrnehmen können). Winterstadt liefert die Bilder zu dieser Befindlichkeit. Der Film ist eine Bestandesaufnahme über das Ende der Hoffnung. Es scheinen keine Geschichten mehr möglich, weder Charlie noch seine zurückgekehrte Ex-Freundin sind fähig, aufeinander einzugehen. Sehr schön nimmt bereits die Eröffnungssequenz des Films das Klima der Vereinsamung und Depression vorweg: ein langes Travelling über die Figuren im einem Restaurant, wo die Akteure alle praktisch reglos und isoliert an der Theke stehen.

Es darf gemüllert werden: O wie Oblomov (Sebastian C. Schroeder, 1982)

„Müllern“, das spielerisch-anarchistische Unterlaufen von Erwartungen und Strukturen, gehörte zu den Hauptqualitäten der Bewegung und O wie Oblomov setzt genau darauf. Nepro („P wie Packeis, O wie Oblomov“) ist ein vierzigjähriger Aussteiger, der in Anlehnung an einen russischen Romanhelden („Oblomov“ von Ivan Gontscharov, 1858) seine Tage bevorzugt in seinem quadratischen Bett verbringt.

Doch, anders als sein literarisches Vorbild, schlägt der neue Oblomov seine Zeit nicht mit Buchlektüre tot, sondern mit dem Visionieren von Filmen. Und da ist im Laufe der Jahre einiges zusammengekommen: Zu einer feierlichen Opernouvertüre erheben sich Eismassen aus der Limmat, flimmern Aufnahmen von abstossenden Tierversuchen über den Monitor, absolviert die hochgerüstete Zürcher Polizei zu Marschmusik ihren nächsten Tränengaseinsatz. Nepro, zumeist nur mit seidenem Schlafmantel und Pantoffeln bekleidet, träumt selber vom Film.

So hat er ein Filmteam engagiert, das seine Tage dokumentarisch festhalten soll. Nicht genug damit: Listig hat er überdies eine karrieresüchtige Fernsehjournalistin eingeladen, die unter dem Titel „Existenzen am Rande unserer Gesellschaft“ live für ein Bürgerfernsehen aus seiner Klause berichten soll…

Sowohl der Regisseur wie auch sein Held haben hieb- und stichfeste Alibis: Schroeder hat den Grossteil seiner Aufnahmen über die 1980/81 Demos mit der Handkamera selbst gedreht und vertont. Seine Aufnahmen von den Adventsdemos mit der Weihnachtsbeleuchtung an der Zürcher Bahnhofstrasse sind von einer beinahe surrealen Qualität. Und Gastgeber Nepro, ein ehemaliger Ingenieur, hat seinen wissenschaftlichen

Bettel in einer Chemiefirma schon lange hingeschmissen, nachdem er mit ansehen musste, welche Auswirkungen seine Erfindung (eine Mischdüse für hochgiftige Aerosole) hatte, freilich nicht, ohne sich auf Lebzeiten die Lizenzen seiner Erfindung zu sichern. Fast überflüssig zu erwähnen, dass die Live-TV-Sendung vorzeitig abgebrochen wird. Die Filmaufnahmen, die Nepro bereit hält, und die sarkastischen Kommentare dazu sind zu viel für das „Bürgerfernsehen“.

Damit endet die Liste der Filme, die bildlich-thematisch unter direktem Einfluss der 80er Bewegung standen. Natürlich könnte man hier auch noch Fredi Murers Höhenfeuer (1985) erwähnen, denn radikaler hat wohl kein Film den Jugendaufstand formuliert. Die Verbrennung der Väter, in Züri brännt im Off gefordert, wird in diesem Film Tatsache: Doch das „Bergheimet“ der Jähzornigers ist als Wohnort eine universelle Metapher und hat keinen direkten Bezug zur helvetischen Realität der 80er Jahre. Und in Samirs Eine Ode für Heisenberg (1985) finden sich tatsächlich zahlreiche anarcho-dadaistische Elemente, die die Kunstproduktionen der „Bewegung“ charakterisierten. Aber mit seinen Anspielungen und Verfremdungen steht dieser Film der Postmoderne bedeutend näher als der „Bewegung“.

Das Private und das Politische: Dreissig Jahre (Christoph Schaub, 1989)

Mit einer Photogalerie bezog sich der aus dem Videoladen herausgewachsene Christoph Schaub gleich zu Beginn von Dreissig Jahredirekt auf 1980/81, auf „die Zeit der grossen Entschiedenheit“, auf die Zeit der tausend Möglichkeiten, so der Filmkommentar weiter, „eine verlockender als die andere“. Der 80er Geist schwebt über der Geschichte der mittlerweile dreissigjährigen Protagonisten. Sie, die ehemaligen WG-Bewohner und „verschworenen Kämpfer für das andere Leben“, stehen nach zehn Jahren noch immer in loser Verbindung: der bildende Künstler und Gelegenheitsarbeiter Franz, der Musiker Nick und der Gehrinforscher Thomas.

Wie ist um die einstigen Ideale, um die Vorstellungen von Politik und Liebe bestellt? Ganz lassen sich „die Gespräche von früher, wo wir die Welt neu entwarfen“, nicht wieder fortsetzen, doch die alten Werte von Selbstverwirklichung, Freiraum und Freundschaft gelten weiterhin, und der Nashornballon, der zum Schluss im Himmel über Zürich schwebt, versinnbildlicht zumindest eine neue Erträglichkeit des Seins.

Unter dem Pflaster liegt der Strand: Lüzzas Walkman (Christoph Schocher, 1989)

Im selben Jahr liess der Engadiner Christoph Schocher, der bereits 1981 mit Reisender Krieger einen Handelsreisenden in Sachen Kosmetika auf eine bewegte und bewegende Reise ins Schweizer Landesinnere geschickt hatte, einen jungen Bergbauernsohn mit einem geborgten Jeep nach Zürich fahren: Durch einen unendlich langen Tunnel gelangt der 18-jährige rockverrückte Lüzza direkt von seinem Bündner Dorf auf den Zürcher Bellevueplatz.

Eigentlich vom Wunsch getrieben, die Touristen, für die er jeweils die Skiliftsessel poliert, an ihrem Wohnort kennen zu lernen, erlebt Lüzza die blankgeputzte Bankenstadt aus der Sicht von unten: In langen dokumentarisch-authentischen Sequenzen begegnet er Gestrauchelten und Gestrandeten, selbst ernannten Heilsbringern beiderlei Geschlechts, Freaks und Querschlägern, Pennern und Alkis, Outcasts und Fixern. Sie alle hausen in den Nischen, welche die reiche Grossstadt (Zurich = Turich = Too rich) noch bietet, im Shopville, am Güterbahnhof, in der Roten Fabrik und auf dem Platzspitz.

Natürlich finden sich in diesem Kaleidoskop des Zürcher Undergrounds auch Ex-Bewegte, insofern gehört Lüzzas Walkman zum Thema diese Artikels. Doch dieser Film markiert den Endpunkt einer Entwicklung: Genau so gut könnte man darin einen Vorläufer für die politische Ratlosigkeit rund um die Drogenszene am Letten sehen, die Zürich sechs Jahre später abermals in die internationalen Schlagzeilen katapultierte.

Rast- und Ratlosigkeit: Restlessness (Thomas Imbach, 1990)

Schon der Titel macht es klar, und tatsächlich wird wohl in keinem anderen Schweizer Film so viel gefahren wie in Restlessness. Die drei Hauptfiguren, zwei Frauen, ein Mann, sind permanent zwischen Basel, Bern und Zürich unterwegs, finden aber nie zusammen. Ein Film über den „permanenten Aufbuch ohne Ankunft“ mit endlosen Bahnfahrten, Ankünften und Abreisen. Fast scheint es, als ob die ehemals Bewegten nun selber getrieben würden.

Vielleicht haben sie aber auch nur akzeptiert, dass sie nicht das Zentrum der Erde sind, wie sie Anfang der 80er Jahre glaubten. Dennoch: Es ist ein leeres Drehen, alles bewegt sich und nichts rührt sich. Wohl nicht zufällig wandte sich Regisseur Thomas Imbach nach diesem einstündigen Spielfilm der Gattung des Dokumentarfilms zu: Well Done (1994) und Ghetto (1997) handelten von der harten Realität der 90er Jahre, von der hektischen, repetitiven, von Computer beherrschten Welt der New Economy im einen, von den beruflichen Schwierigkeiten einer Abschulklasse an der Zürcher Goldküste im anderen Fall.

Felix Aeppli

 

Grundlage für diesen Beitrag waren Videokopien aus der privaten Filmsammlung des Autors. Dazu wurden Artikel folgender Autorinnen und Autoren beigezogen:

Alper, Heini: Lüzzas Walkman (Cinema Jb. 35, S.196)
Christen, Ruedi: E nachtlang Füürland (Cinema 3/81)
Flückiger, Barbara: Winterstadt (Zoom-Filmberater 16/81)
Jaeggi, Urs: E nachtlang Füürland (Zoom-Filmberater 16/81)
Messerli, Alfred: Dreissig Jahre (Cinema Jb. 46, S.153-165)
Odermatt, Urs: O wie Oblomov (Zoom-Filmberater 4/82)
Richter, Robert: Lüzzas Walkman (Zoom 20/89)
Schaub, Martin: Les indiens sont encore loin (Cinema 3/77) und Winterstadt (Cinema 3/81)
Schelbert, Corinne: Kleine frieren auch im Sommer (Cinema 3/78) und Messidor (Cinema 1/79)
Schneider, Urs: O wie Oblomov (Cinema 1/82)
Silberschmidt, Catherine: Restlessness (Cinema Jb. 37, S.176)
Walder, Martin: Grauzone (Cinema 3/79)
Wenz, Jutta: Dreissig Jahre (Zoom 5/90)

Erschienen im Sammelband: Wir wollen alles und zwar subito: Die achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen (hg. von Heinz Nigg), Limmat Verlag Zürich, 2001, S. 408-417

Homepage des Autors: https://aeppli.ch/

Der Originalartikel kann hier besucht werden