Der Verfassungsgerichtshof erkannte vergangene Woche keine gesetzliche Grundlage für ein allgemeines Betretungsverbot von öffentlichen Orten samt Ausnahmen, wie sie BM Rudolf Anschober im März verordnet hatte. Die Regierung hatte also gesetzwidrig gehandelt – und dabei die Bürger*innen sozial ungleich getroffen.

Von Tamara Ehs

Tamara Ehs: Kolumnistin für „Unsere Zeitung – DIE DEMOKRATISCHE.“ (Foto: privat)

Als Bundeskanzler Sebastian Kurz im ZiB-2-Interview vom 6. April mit der Kritik an womöglich gesetzwidrigen Verordnungen und schlampiger Legistik konfrontiert wurde, wies er dies als „juristische Spitzfindigkeiten“ zurück und übergab die Frage in nachgängiger Befassung an den Verfassungsgerichtshof. Wenn dieser im Sommer zusammentrete, seien die Maßnahmen ohnehin nicht mehr in Kraft, so Kurz. An jenen Aussagen ließ sich nicht nur ein Mangel an rechtstaatlichem Verständnis, sondern vor allem ein autoritäres (Krisen-)Bewusstsein ablesen: Die Regeln des demokratischen Rechtstaates wären vernachlässigbar, der Erfolg der Maßnahmen rechtfertige die Mittel.

Nun erkannte der Verfassungsgerichtshof im Juli, was Expert*innen schon im März kritisiert hatten: Das vom Gesundheitsministerium verordnete und von der Polizei exekutierte generelle Ausgangsverbot – gelockert durch die vier berühmten Ausnahmen – war nicht im Sinne des parlamentarischen Gesetzgebers. Umgehend entbrannte eine Debatte, wie mit den zu Unrecht bezahlten Strafen zu verfahren sei. Eine Generalamnestie wird von der Opposition schon seit Mai, als das erste Landesverwaltungsgericht eine Coronastrafe als unzulässig aufhob, lautstark gefordert. Allerdings ist solch ein allgemeiner Straferlass für die Regierungsparteien aufgrund des befürchteten Autoritätsverlusts in Hinblick auf eine mögliche „zweite Welle“ nicht wünschenswert. Auch rechtspolitisch scheint sie nicht geboten, weil damit ebenso die tatsächlichen Vergehen straflos gestellt würden. Der Rechtswissenschafter Bernd Christian Funk meinte im „Standard“-Interview, wer sich ungerecht behandelt fühle, könne ja Beschwerde einlegen. Die vielen Medienberichte würden genügend Unterfutter dafür bieten, dass der Gang zum Verwaltungsgericht auch Laien zuzutrauen sei.

Doch stimmt das? Kann jede*r von uns Beschwerde einlegen? Ich sehe das anders. Obwohl natürlich nach dem Buchstaben des Gesetzes jeder Laie die Gerichte beschäftigen kann, sind faktisch sowohl Rechtskenntnis als auch der Zugang zum Recht sozial ungleich verteilt. Der rechtswidrigen Verordnung des Gesundheitsministers haftet somit ein gesellschaftliches Gleichheitsproblem an, denn vor dem Ausnahmezustand sind nicht alle gleich. Wer im „Lockdown“ über Haus und Garten verfügte, kam kaum in Verlegenheit, zum Luftschnappen in den Park zu gehen, um dort vielleicht von der Polizei perlustriert zu werden. Wer bildungsbürgerlichen Habitus sein Eigen nennt, konnte ihren*seinen Aufenthalt in der Öffentlichkeit bei Kontrollen eher plausibel begründen. Wer Geld hat und sich eine*n Anwalt*Anwältin leisten kann, also „Beschwerdemacht“ hat, bezahlte die Strafe nie und bekam wohl von einem Verwaltungsgericht längst Recht.

Die Volksanwaltschaft bietet den betroffenen Bürger*innen jetzt ihre Unterstützung an, was die soziale Ungleichheit ein wenig abmildert. Rudolf Anschober stellte zudem eine nicht näher erläuterte „bürgerfreundliche Lösung“ in Aussicht. Demokratiepolitisch betrachtet müssten all jene, die zu Unrecht Strafe bezahlten, von den Behörden persönlich über die möglichen Rechtsschritte informiert werden. Die Holschuld der Bürger*innen, vor Gericht Recht zu bekommen, müsste demnach zu einer Bringschuld des Staates, Recht zukommen zu lassen, gewendet werden. Denn Autoritätsverlust entsteht nicht, wenn man einen Fehler zugibt, sondern wenn man auf seinem Unrecht beharrt.

Tamara Ehs ist Wissensarbeiterin für Demokratie und politische Bildung, derzeit in Forschungskooperation mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Außerdem berät sie Städte und Gemeinden in Fragen partizipativer Demokratie. Sie ist Trägerin des Wissenschaftspreises des österreichischen Parlaments. Soeben ist ihr neuestes Buch „Krisendemokratie“ (Wien: Mandelbaum Verlag 2020) erschienen, das aus der Coronakrise sieben Lektionen für die österreichische Demokratie zieht.

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