Sechs afrikanische Staatspräsidenten versuchen, das gnadenlose Joch des „Washington Consensus“ abzuschütteln.

Afrikanische Staaten suchen — herausgefordert durch Armut, Klimakatastrophe und Bevölkerungsexplosion — eigene Auswege in die Zukunft und aus der neokolonialen politökonomischen Abhängigkeit. Waren in den Jahren 1987/88 die Gipfeltreffen der Afrikanischen Union mit Forderungen zur Ent- und Umschuldung befasst — was sich bis heute hinzieht —, so ist aktuell im Fokus, die industrielle Entwicklung zu forcieren, den unentwickelten afrikanischen Binnenmarkt zu erschließen und dazu die Infrastruktur — Verkehr, Energie, Bildung und Gesundheit — als Voraussetzung zu finanzieren. Und dieser immense Finanzierungsbedarf stößt auf politische Grenzsetzungen, wie sie unter anderem in den auf dem Washington Consensus beruhenden „Strukturanpassungs-Reformen“ des Internationalen Währungsfonds wirken. Die seit 2000 im dreijährigen Rhythmus stattfindenden Foren der Afrikanisch-Chinesischen Zusammenarbeit (FOCAC) haben in Konkurrenz dazu große Infrastrukturmaßnahmen angestoßen. Afrikanische Präsidenten verlangen nunmehr „Fairness“ im „Dakar Consensus“.

Verlangsamtes Wirtschaftswachstum (1) und Haushaltsdefizite, verursacht vor allem durch den Verfall der Rohstoffpreise, treiben erneut afrikanische Länder in die Fänge imperialistischer Kreditinstitutionen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds (IWF) und „Geberländer“ wie die Europäische Union. Diese neokolonialistischen „Donatoren“ vergeben ihre Kredite zusätzlich zu politisch-ökonomischen Bedingungen entsprechend dem neoliberalen „Washington Consensus“ zu Kapitalmarkt-Zinssätzen. Um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen: Der chinesische TV-Sender CGTN Africa meldete am 14. November (2), der Internationale Währungsfonds (IWF) habe Kenia neue Konditionen für seinen 1,5 Milliarden Dollar umfassenden „Stand-by“-Kredit gesetzt: Steuer- und Ausgabenkürzungen, „die den Investitionen des privaten Sektors nicht schaden und das Wirtschaftswachstum dämpfen“ sollen.

Oder afrikanische Länder begeben sich selbst auf den Kapitalmarkt und geben Staatsobligationen heraus, allerdings auch gegen an Wucher grenzende Zinsverpflichtungen, je nach Risikobewertung und Staatsranking von Ratingagenturen wie Moodys und Laufzeiten bis zu 30 Jahren — allerdings bis zu 9,4 Prozent wie etwa für Angola oder zu 7,9 Prozent für Ägypten bei 30-jähriger Laufzeit, oder bei 10-jähriger Laufzeit bis zu 8,5 Prozent für Angola oder 7,25 Prozent für Kenia (3).

Entwicklungs- und Schwellenländer hatten vergeblich versucht, die Kreditbedingungen über veränderte Mehrheitsverhältnisse in den Entscheidungsgremien zu erleichtern: So wurde eine bescheidene Reform der Quotas der Weltbank, im Dezember 2010 beschlossen, vom US-Kongress blockiert. Daraufhin gründeten die Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, die 2006 eine engere wirtschaftliche Kooperation vereinbart hatten, im Jahr 2014 die BRICS-Bank „New Development Bank“ mit Sitz in Shanghai und Johannesburg in Konkurrenz zu Weltbank (WB) und IWF. Und China initiierte 2015 die Gründung der Asiatischen Infrastruktur- und Investmentbank (AIIB), an der sich neben Deutschland über 70 Länder an der Finanzierung von weltweiten Projekten beteiligen, die keinen politischen Bedingungen unterworfen sind, sondern nur — durch Studien belegt — des Nachweises der Machbarkeit und Nachhaltigkeit bedürfen.

Mittlerweile wickeln immer mehr Länder über ihre Zentralbanken Import und Export in chinesischen Renminbi und den jeweiligen Landeswährungen ab, was die Abhängigkeit vom Dollar und dementsprechenden Devisenreserven tendenziell reduziert.

Jetzt haben die Präsidenten von Niger, Benin, Togo, Burkina Faso, Côte d’Ivoire und Senegal den „Washington Consensus“ offen für obsolet erklärt — eine “kleine Revolution“, wie der französische Ökonom Alain Faujas in Jeune Afrique am 3. Dezember einschätzte (4). Tatort war Dakar, die Hauptstadt Senegals: Ein hochkarätig besetztes Colloquium — also eine wissenschaftliche Konferenz zum Thema „Nachhaltige Entwicklung und tragfähige Verschuldung, um das richtige Gleichgewicht zu finden“, die der IWF, das Land Senegal, die UNO und der „Cercle des économistes français“, ein Kreis von aktuell dreißig Professoren, abhielt.

Die sechs Staatschefs kritisierten mit einer Stimme und ohne diplomatische Umschweife die Regeln des „Washington Consensus“, die ihnen die internationalen Institutionen, allen voran der IWF und die Weltbank aufzwingen: in erster Linie die Privatisierung von Staatsunternehmen, verbunden mit einer Deregulierung von Märkten und Preisen, was zum Abbau sozialpolitischer Subventionen führte — Ursache von Aufständen, aufgeflammt in Tunesien, Ägypten und Sudan, um nur einige zu nennen. Die „Strukturanpassungs-Maßnahmen“ verlangten auch eine rigide Austeritätspolitik — Haushaltskürzungen verbunden mit einer Liberalisierung des Außenhandels.

Macky Sall, der Präsident Senegals, brachte es auf den Punkt: „Was uns behindert, sind die Vorurteile, die den Zinssatz für unsere Kredite erhöhen“. „Vorurteile“ der imperialistischen Ranking-Agenturen wirken oftmals als Vorverurteilungen. Er protestiert gegen das unterstellte Kreditrisiko, was die Kreditzinsen in die Nähe von 10 Prozent per anno hochtreibe. „Unsere Verschuldung beträgt 55 Prozent unseres Bruttoinlandprodukts, aber der globale Durchschnitt beläuft sich auf 225 Prozent.“

Der Staatspräsident von Niger, Mahamadou Issoufou, verlangte, dass die „vitalen Ausgaben für die Sicherheit“ in Höhe von 20 Prozent des Budgets bei der Berechnung des Haushaltsdefizits ausgeschlossen gehörten.

Alassane Ouattara, der Präsident der Elfenbeinküste, drängte ebenso auf „mehr Flexibilität bei der Beurteilung unserer Defizite, weil unsere Investitionen keine sofortige Wirkung haben“.

Der togolesische Präsident Faure Gnassingbe wurde deutlich:

„Die gleichen Hilfsmittel wie in der Vergangenheit anzuwenden, wird keine Lösung unserer Probleme bieten (…) uns aufzufordern, Anstrengungen zu unternehmen und uns mit Versprechungen zufriedenzustellen“.

Der Präsident von Burkina Faso, Roch Marc Christian Kaboré, wandte sich gegen die Bedingung des IWF, das Budgetdefizit dürfe nicht mehr als drei Prozent betragen. Er kritisierte auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die das Land auf Rang 6 von 7 insgesamt einstufe:

„Die Risikoprämie, die wir zahlen müssen, beträgt 12 Basispunkte, während wir in diesen Zeiten, in denen das Geld überhöht ist und die Zinsen negativ sind, bei 5 Punkten liegen sollten. Wir können uns nicht länger als 15 Jahre leihen, was nicht ausreicht, um einen Wasserkraftdamm zu amortisieren.“

Auf die Kritik der Präsidenten, der IWF verweigere, die Qualität der Schulden zu berücksichtigen, reagierte die neu berufene Generaldirektorin des IWF, Kristalina Georgieva, huldvoll mit Verständnis: Sie erkannte die Notwendigkeit an, „Klima- und Sicherheitsschocks zu berücksichtigen und über innovative Wege nachzudenken, um sie abzufedern“. Sie schloss strikte die Möglichkeit aus, über Schulden die UN-Milleniumsziele einer nachhaltigen Entwicklung zu erreichen. Sie verwies darauf, dass sich die öffentliche Verschuldung Schwarzafrikas von 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2000 bis 2016 auf 35 Prozent verbessert habe, was auf die Schuldenerlasse für die ärmsten Entwicklungsländer zurückzuführen sei.

Bis 2016 hätte sich die durchschnittliche Verschuldung auf 55 Prozent des BIP infolge des Preisverfalls für Rohöl und Mineralien auf der einen Seite und des erheblichen Investitionsbedarfs an Infrastruktur auf der anderen Seite erhöht.

Heute sehe der IWF sieben Länder als überschuldet an — Eritrea, Gambia, Mosambik, die Republik Kongo, São Tomé und Príncipe, Südsudan und Simbabwe — und neun Länder, die in die Überschuldung abzurutschen drohen, darunter Burundi, Kamerun, Äthiopien, Ghana, die Zentralafrikanische Republik, Tschad und Sambia.

Der senegalesische Präsident Macky Sall schloss das Symposium mit sieben „Konvergenzpunkten“, um das richtige Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen von Entwicklung und Schuldennachhaltigkeit zu finden. Er gab den Forderungen in Opposition zum „Washington Consensus“ den Namen „Dakar Consensus“, nämlich:

  • inländische Ressourcen — Ersparnisse und Steuern — besser zu mobilisieren;
  • die Governance der öffentlichen Finanzen und des Geschäftsklimas zu verbessern;
  • Umwelt- und Sicherheitsherausforderungen zu berücksichtigen;
  • Investitionen zu beschleunigen;
  • den Mehrwert afrikanischer Produkte durch bessere Integration in die Wertschöpfungsketten zu steigern;
  • die übertriebene Risikowahrnehmung in Afrika zu bekämpfen;
  • die Zusammenarbeit zwischen afrikanischen Ländern, bilateralen und multilateralen Agenturen und dem Privatsektor fortzusetzen,
    um sicherzustellen, dass „Afrika zu einer der von der Weltwirtschaft benötigten Triebkräfte“ wird.

Jean-Hervé Lorenzi, Vorsitzender der am Colloquium beteiligten Professorengruppe, schätzte, dass die 75 Milliarden Dollar, die jedes Jahr auf dem Kontinent investiert werden, innerhalb von zwei Jahren verdoppelt werden und 15 Jahre lang auf diesem Niveau bleiben müssten.

Allerdings müsste ein Paradigmenwechsel durchgesetzt werden —, von der extern gesteuerten Geber- zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit, in der nicht der Fokus auf Wirtschaftswachstum, sondern auf die Erhöhung von Kapazitäten im Rahmen lokaler lang- und mittelfristiger Entwicklungsprogramme liegt — Afrika nicht mehr als Begünstigter oder Empfänger, sondern als Partner und Antrieb eigener Entwicklung angesehen wird — wie es in der weltumspannenden Belt-and-Road-Initiative Chinas entwickelt wird.

Macky Sall wird 2021 Gastgeber des nächsten FOCAC sein, des Forums Afrikanisch-Chinesischer Zusammenarbeit. Dabei wird nicht nur die Auswertung der 60 Milliarden Dollar chinesischer Investitionskredite aus den vergangenen drei Jahren eine große Rolle spielen, sondern auch die weitere Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen entsprechend der nationalen Entwicklungsprogramme. Der „Dakar-Consensus“ wird dabei ein wichtiger Leitfaden, aber auch eine Messlatte sein.

Dieser Beitrag von Georges Hallermayer erschien erstmalig bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse unter CC BY 4.0.

Quellen und Anmerkungen:

(1) Jeune Afrique 18. Okt. 2019: „[Infographies] Le FMI s’attend à une croissance ralentie pour l’Afrique subsaharienne en 2020“
(2) CGTNAfrica 14. Nov. 2019: „IMF sets new conditions for Kenya $1.5b standby loan“
(3) Jeune Afrique 3. Dez. 2019: „Marché de la dette: les eurobonds ont la cote en Afrique“
(4) Jeune Afrique 3. Dez. 2019: „À Dakar, six chefs d’État africains contestent le consensus de Washington face au FMI.“
Africa Report 6. Dez. 2019: „Forget the Washington Consensus, meet the Dakar Consensus”

Literatur in chronologischer Reihenfolge:

Africa Report 6. Dez. 2019: „Forget the Washington Consensus, meet the Dakar Consensus“, Jeune Afrique 3. Dez. 2019: „Marché de la dette: les eurobonds ont la cote en Afrique“
Jeune Afrique 3. Dez. 2019: „À Dakar, six chefs d’État africains contestent le consensus de Washington face au FMI.“
CGTN Africa 14. Nov. 2019: „IMF sets new conditions for Kenya $1.5b standby loan“
Jeune Afrique 18. Okt. 2019: „[Infographies] Le FMI s’attend à une croissance ralentie pour l’Afrique subsaharienne en 2020“
Luca Bandiera, VasileiosTsiropoulos: „A framework to Assess Debt Sustainability and Fiscal Risc under the Belt and Road Initiative“, World Bank Group. Macroeconomics, Trade and Investment Global Practise, Juni 2019
OECD (Hrsg.): Study on Collaborative Partner-Donor Evaluation. Final Study Report, März 2016


Georges Hallermayer, Jahrgang 1946, studierte in München kommunale Verwaltungswissenschaften, danach Geschichte, Germanistik und Sozialwissenschaften und erhielt schließlich Berufsverbot. Er lebt seit 30 Jahren in Frankreich und arbeitete als Dozent und stellvertretender Zentrumsleiter bei den Carl-Duisberg-Zentren. Weitere Informationen unter weltsolidaritaet.blogspot.com.