Die Datenschutzgrundverordnung läutet das Ende der Privatsphäre ein.

Datenschutz betrifft uns alle. Seit knapp einem Jahr mehr denn je. Ob Einkauf oder Arztbesuch: Wir müssen die Aushändigung unserer Daten quittieren. Gleichzeitig rüsten wir uns mit mobilen Wanzen aus und geben alles in Netzwerken preis. Die meisten Menschen warten nicht mehr auf weitere Bespitzelungs-Vorstöße seitens des Staates und der Instutitionen; sie geben alles freiwillig preis. Das menschliche Leben wird so zu einer komplett öffentlichen Veranstaltung in einer Gesellschaft der Voyeure und Exhibitionisten.

Mein bürgerliches Leben als Arbeitnehmer verbringe ich in der Verwaltung eines Krankenhauses. Datenschutz ist ja von jeher ein großes Thema im Gesundheitswesen. Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) hat aber freilich auch dort für mehr Papieraufwand gesorgt. Das Arztgeheimnis ist empfindlich, geraten Daten in falsche Hände, kann das unangenehm bis teuer werden. Um sich abzusichern, holt jeder vorab allerlei Unterschriften zur Erlaubnis der Datenübermittlung ein. Ob nun Arztbericht oder Reha-Antrag: Die Daten eines Patienten gehören zunächst ihm. Falls er sie zur Behandlung abtreten muss, heißt das für ihn: Unterschreiben, unterschreiben und — ja genau — unterschreiben.

Natürlich gab es vorher schon Entbindungen vom Datengeheimnis. Aber seitdem im Mai 2018 die Datenschutzgrundverordnung den totalen Datenschutz deklarierte, nicken viele von denen, die in mein Büro kommen, ziemlich verschwörerisch, wenn wir in medias res gehen. So als wüssten sie darüber Bescheid, dass wir uns nun im Datenschutzzeitalter befinden. Seit die DSGVO aktiviert ist, muss ich ihnen nur sagen, dass da unten noch ein Passus mit einer Datenschutzerklärung ist, schon kritzeln sie ihren Otto drunter. Rückfragen? Durchlesen? Das kommt selten vor. Noch weitaus seltener als vorher, als die Grundverordnung noch ein Papiertiger aus Brüssel war.

„Mein Name ist Müller, ich habe mir die Hoden verdreht“

Einige von denen, die ich um eine Unterschrift zu bitten habe, motzen natürlich rum, „Datenschutzunsinn“ nennen sie es und unterschreiben synchron dazu. Für sie bin ich der Mann, der sich diese protektionistischen Sperenzchen ausgedacht hat. Dennoch nimmt jeder es hin, hat resigniert, will gar nicht mehr wissen, was es mit dem Zauber auf sich hat. Beim Wort „Datenschutz“ zücken alle den Stift, sind bereit ihren Teil zu leisten.

Quatsch ist der Datenschutz aber nun wahrlich nicht. Trotz aller Verstimmungen. Er ist nur schrecklich anachronistisch. Die Ära der Intimsphäre scheint längst vorbei zu sein. Der moderne Zeitgenosse versteht sein Leben als Konzept der Zurschaustellung seiner Angelegenheiten.

Rückzug ins Private, ein besonderer Schutz seiner Intimsphäre scheint dafür gar nicht mehr vorgesehen zu sein. Viele zelebrieren die Show des Lebens in Netzwerken ebenso wie im öffentlichen Raum.

Neulich in einer gut gefüllten S-Bahn telefonierte ein Mann in den Dreißigern laut und deutlich mit einem Arzt oder einem Krankenhaus. Jedenfalls ließ das Gesagte die Deutung zu, dass er mit einer medizinischen Einrichtung sprach. „Mein Name ist Müller“, stellte er sich vor. Wobei ich anmerke, dass er anders hieß, aber weil ich Wert auf Datenschutz lege, nenne ich ihn Müller. „Ich müsste mal bei Ihnen vorbeikommen, ich habe mir irgendwie die Hoden verdreht.“ Bevor es interessant wurde, musste ich aussteigen. Ein derartiger Infostriptease in Zeiten der DSGVO ist nicht die Ausnahme. Er hat sich als Regel etabliert.

Blockwart, IM, Alexa

Nie zuvor hatten soziale Netzwerke so eine Legitimität. Ob bei Facebook oder Instagram: Die Nutzer kehren ihr Leben, die Dinge, die sie tun, die sie beschäftigen und Vieles, was eigentlich besser privatim bliebe, nach außen. Gut sichtbar für die Allgemeinheit dokumentiert breitet sich die Vita aus. Das Phänomen ist bekannt und dürfte mittlerweile jedem vertraut sein.

Mit den Superwanzen allerdings, sprachgesteuerten Geräten wie Alexa, haben sich jedoch alle letzten Datenschutzbedenken aufgelöst. Prompt bestätigte sich dann, was Datenschützer schon orakelt hatten: Mitarbeiter der berühmten Datenkrake lauschen den Gesprächen. Vergessen all die Debatten über den Lauschangriff: Wohnzimmer können jetzt mit freundlicher Unterstützung der Belauschten belauscht werden.

Während sich geschichtsbegeisterte Deutsche über Blockwarte aus braunen Zeiten und fiese inoffizielle Mitarbeiter oder Stasi-Lauscher mokieren, etabliert sich der Blockwart 2.0 als Normalität. Der Robot-IM sieht chic aus, legt Wert auf Design und adelt damit jede moderne Inneneinrichtung — und legt nebenher seine Personenakte digital an, wo sein Vorgänger aus Fleisch und Blut noch Kladden pflegte.

Die Übereifrigkeit des totalen Datenschutzes bei gleichzeitiger Gleichgültigkeit gegenüber der Privatsphäre: Der Zeitgeist ist ganz offenbar ein schizoider Geselle.

Ihm steht der Sinn nicht nach rotem Faden. Im Grunde sehe ich die Datenschutzgrundverordnung als letztes Halali einer Idee, die sich wohl nicht mehr reanimieren lässt. Auch nicht mit penibler Penetranz bei der Datenverarbeitung. Ja, schon gar nicht mit ihr! Je mehr man zur Datenbearbeitung unterschreiben, genehmigen und klicken muss, desto mehr schreckt sie als Idee ab und etabliert die eigentliche Idee hinter der DSGVO: Das Ende des Datenschutzes.

DSGVO: Ein Anfang kann ein Ende sein

Im Allgemeinen geht jeder ja davon aus, dass seit Mai 2018 der Datenschutz fest im Sattel sitzt. So fest wie nie. Die Datenabschöpfung der großen Kraken (Google, Amazon und Facebook) machte ja durchaus einen rechtlichen Rahmen notwendig. Die Legende will es, dass sich die Politik daraufhin durchgesetzt habe. Zwar wurde aus dem Vorhaben kein spezielles Kraken-Gesetz, sondern eine umfangreiche Grundverordnung für jedermann. Doch dem Datenschutzgedanken habe das keinen Abbruch getan. Im Gegenteil — jetzt ist er im Alltag dauerhaftes Thema, etabliert wie nie.

Der Punkt ist aber doch, dass die DSGVO so konzipiert wurde, dass sie als ein lästiges Drangsal wirkt. Auf diese Weise war sie nicht zur Schaffung eines Datenschutzbewusstseins geeignet. Es gelang ihr nicht, Bürgerinnen und Bürgern zu sensibilisieren, sie setzte ihnen stattdessen zu, ging ihnen gehörig auf die Nerven. So lange, bis sie aufgaben. Bis sie alles unterschreiben oder anklicken, um datenverarbeitende Unternehmen rechtlich abzusichern. Der Grundgedanke war nicht, den Datenschutz als Idee zu konzipieren, sondern eine juristische Datenschutzfestigkeit zu etablieren. Und das ist gelungen.

Salopp gesagt hat die DSGVO nicht das Zeitalter des Datenschutzes eingeläutet, sondern das Ende des Datenschutzes. Die Grundstimmung in der Gesellschaft tendierte ja ohnehin dahin, sein Leben als eine nicht zu schützende Veranstaltung zu begreifen. Private Zurückhaltung war und ist out.

In einem solchen Klima konnte die DSGVO nur zur Umkehrung ihrer vielleicht mal beinhalteten Ausrichtung gelangen. Die Datenschutz-Ära ist vorbei. Die Grundverordnung änderte daran nichts. Sie machte die totale Gleichgültigkeit vollkommen.

Dieser Beitrag vonRoberto J. De Lapuente erschien erstmalig bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse unter CC BY 4.0.


Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Seit 2017 ist er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. 2012 wurde er Kolumnist beim Neuen Deutschland und seit 2018 schreibt er regelmäßig für Makroskop. De Lapuente hat eine Tochter und wohnt mit seiner Lebensgefährtin in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.