Die Zahl der Menschen, die im zentralen Mittelmeer ertrinken oder in libyschen Haftlagern unter erbärmlichen Bedingungen festgehalten werden, ist in diesem Jahr dramatisch gestiegen. Ein neues Briefing von Amnesty International warnt vor den Folgen einer Ausweitung der europäischen Abschottungspolitik auf die gesamte Region.

Der Bericht mit dem Titel «Between the devil and the deep blue sea. Europe fails refugees and migrants in the Central Mediterranean» (pdf, englisch 27 Seiten) enthüllt die entsetzlichen Folgen einer Politik, die allein im Juni und Juli zu mehr als 721 Toten auf See geführt hat. Er beleuchtet das neue Vorgehen der italienischen Behörden, das dazu führt, dass Menschen tagelang auf See ausharren müssen, und analysiert, wie die Europäischen Staaten gemeinsam darauf hinarbeiten, Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten in Libyen zu halten, wo sie Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt sind.

«Obwohl die Zahl der Menschen zurückgegangen ist, die in den vergangenen Monaten versucht haben, das Mittelmeer zu überqueren, ist die Zahl der Toten auf dem Meer gestiegen. Die Verantwortung für die steigende Zahl der Toten liegt direkt bei den europäischen Regierungen, denen es wichtiger ist, Menschen vor Europas Grenzen abzuhalten, als Leben zu retten»

kommentierte Matteo de Bellis, Experte für Asyl und Migration bei Amnesty International.

«Die europäische Politik hat die libysche Küstenwache ermächtigt, Menschen auf dem Meer abzufangen. Die Priorität liegt nicht mehr auf der Seenotrettung und die lebenswichtige Arbeit durch NGOs, die diese Aufgabe übernommen haben, wird behindert. Der jüngste Anstieg an Toten auf dem Meer ist nicht nur eine Tragödie, er ist eine Schande»

sagte Matteo de Bellis weiter.

Die grosse Zunahme der Ertrunkenen wird von einem massiven Anstieg der willkürlich in überfüllten Haftzentren in Libyen festgehaltenen Menschen begleitet. Die Zahl der Internierten hat sich in den letzten Monaten von 4.400 im März auf über 10.000 Ende Juli mehr als verdoppelt. Darunter sind rund 2.000 Frauen und Kinder. Nahezu alle wurden in diese Zentren gebracht, nachdem sie von der libyschen Küstenwache – die von Europäischen Regierungen ausgestattet, ausgebildet und finanziert wird – auf See abgefangen und nach Libyen zurückgebracht worden waren.

Auch die Schweiz hat der Internationalen Organisation für Migration (IOM) Zahlungen in Höhe von einer Million Franken zur «Stärkung der Seenotrettungskapazitäten» der libyschen Küstenwache zugesichert. Hinzu kommen jährliche Millionenbeträge der Schweiz an die EU-Grenzschutzbehörde Frontex – nach dem Willen des Parlaments soll der Beitrag an die europäische Grenzsicherung bis 2020 auf bis zu 15 Mio. Franken pro Jahr erhöht werden.

Pläne zutiefst beunruhigend

«Trotz der schrecklichen Menschenrechtsverstösse, die Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten durch die libysche Küstenwache und in den Hafteinrichtungen in Libyen drohen, arbeiten europäische Regierungen mit den libyschen Behörden zusammen, um diese in Libyen festzusetzen. Die Pläne, diese Externalisierungspolitik auf die ganze Region auszuweiten, sind zutiefst beunruhigend»

fuhr Matteo de Bellis fort.

Im vergangenen Jahr haben es die europäischen Regierungen versäumt, wichtige Reformen am Dublin-System vorzunehmen, die zu einer Entlastung der europäischen Staaten geführt hatte, in denen die meisten Menschen anlanden. Durch dieses Versäumnis begann Italien, Schiffen mit aus Seenot geretteten Menschen den Zugang zu ihren Häfen zu verweigern. Die neuen Massnahmen richten sich gegen NGO-Schiffe, kommerzielle Frachter und sogar gegen ausländische Marineschiffe.

Menschenleben als Verhandlungsmasse

Unnötige bürokratische Verzögerungen führten dazu, dass Menschen die dringend Hilfe benötigten mehrere Tage auf See bleiben mussten; darunter waren Verletzte, schwangere Frauen, Folterüberlebende, durch Schiffbruch traumatisierte Menschen und unbegleitete Minderjährige.

«Durch die hartnäckige Weigerung, Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten in den Häfen von Bord gehen zu lassen, benutzt Italien Menschenleben als Verhandlungsmasse, um so den politischen Druck auf andere europäische Staaten zu erhöhen»,

sagte Matteo de Bellis.

«Zudem haben italienische und maltesische Behörden die NGOs, die mutig versuchen auf dem Meer Menschenleben zu retten, verleumdet, eingeschüchtert und kriminalisiert, ihren Schiffen wurde untersagt, die Menschen von Bord gehen zu lassen und die Boote sogar beschlagnahmt.»

«Italien und andere europäische Staaten und Institutionen müssen dringend wieder die Seenotrettung in den Vordergrund stellen und sicherstellen, dass die Geretteten umgehend in Ländern von Bord gehen können, in denen ihnen keine Menschenrechtsverstösse drohen und sie Asyl beantragen können.»

Amnesty fordert Untersuchung

Dazu gehört ein Vorfall vom 17. Juli, als die NGO Proactiva eine noch lebende Frau und zwei Tote auf einem sinkenden Schiff vorfand, welches am Tag zuvor von der libyschen Küstenwache aufgegriffen worden war. Oder der Fall des italienischen Handelsschiffs Asso Ventotto, welches am 30. Juli 101 Personen aus Seenot rettete, diese dann aber nach Libyen zurückbrachte.«Diese beiden Vorfälle müssen umgehend und gründlich untersucht werden, denn daran werden die tödlichen Konsequenzen der europäischen Politik deutlich», forderte Matteo de Bellis.

«Die europäischen Regierungen müssen aus dem selbstgeschaffenen Teufelskreis von Abschottung und Externalisierung aussteigen und stattdessen für eine Politik eintreten, die wieder eine gewisse Ordnung in das System bringt, indem sie Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten sichere Möglichkeiten bietet, nach Europa zu gelangen.»

Der Originalartikel kann hier besucht werden