Dass es in Kriegen auf beiden Seiten Opfer gibt, ist unbestritten. Der saubere Krieg oder die gezielte Tötung von Terroristen, Extremisten oder Feinden ist nur eine reine Illusion. Denn wer nun Feind oder Opfer – ausgeschaltet von einer Drohne von hoch oben in der Luft – sein kann oder wird, entscheidet nicht der Einzelne am Abzug. Vielmehr ist es ein Machtgefüge, welches darüber entscheidet, wer heute als Opfer gilt und morgen bereits als Feind zum Abschuss freigegeben wird.

Über 100 Jahre liegt es nun zurück, als Max von Oppenheim im Oktober 1914 eine Denkschrift mit folgender Überschrift veröffentlichte: „Über die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde.“

Max von Oppenheim, kaiserlicher Diplomat, Nachrichtendienstler und Hobbyarchäologe, verfocht darin die Ansicht, dass der Islam „eine unserer (des Deutschen Kaiserreiches) wichtigsten Waffen im drohenden Konflikt“ gegen die deutschen Kontrahenten werden könne. Als Resultat dieser Einschätzung überzeugte das christliche Deutsche Kaiserreich den „kranken Mann am Bosporus“, das vom Zerfall bedrohte Osmanische Reich, den Heiligen Dschihad auszurufen. Dies führte unter anderem dazu, dass die christliche Bevölkerung im Osmanischen Reich auf Deportationsmärsche in die syrische Wüste geschickt wurde. Auf dem Weg dorthin wurden massenweise Menschen massakriert oder als Zwangsarbeiter beim Bau der Bagdad-Bahn eingesetzt, wo sie wie die Fliegen starben. Die Bagdad-Bahn war für das Deutsche Kaiserreich von strategischer Bedeutung, weshalb man die Vernichtung von über 1,5 Millionen Armeniern, über Fünfhunderttausend Suryoye (Assyrer/Aramäer/Chaldäer) und mehreren Hunderttausend Griechen – allesamt Christen – in Kauf nahm.

Die Briten reagierten auf die deutsche Aufwiegelung entsprechend mit einem Counter-Jihad. Wenn man den historischen Quellen Glauben schenken darf, so war es kein geringerer als Lawrence von Arabien, ein britischer Offizier, der auf die Arabische Halbinsel entsandt wurde, um Beduinenstämme – unter ihnen auch die Wahhabiten – zum Jihad gegen die Osmanen und das mit den Osmanen verbündete Deutsche Kaiserreich aufzurufen. Mit Erfolg. Doch den Preis dafür hatten die späteren Generationen zu zahlen. Denn nachdem das Osmanische Reich unter England und Frankreich aufgeteilt worden war, kamen auch die Wahhabiten in Saudi Arabien an die Macht und setzen den Jihad – einst ausgelöst durch die europäischen Kriegsmächte und gespeist aus den Öleinnahmen – von nun an fort.

Und immer wieder verstand man es – auch Jahrzehnte danach – sich den „Dschihad-Effekt“ zunutze zu machen: im Afghanistan-Krieg gegen die Sowjetunion, im Jugoslawien-Krieg auf Seiten der Nato oder im Kosovo-Krieg durch die Rebellen der kosovarischen Miliz UCK. Und dann kam der 11. September 2001. An diesem Tag wurden Flugzeuge in die Twin-Towers in New York gesteuert und löschten mit einem Schlag mehr als tausend Menschenleben aus. Sie waren ebenfalls Opfer eines Krieges. Doch sind sie auch Opfer einer Strategie, die einst die hervorgebracht hat, die zunächst von Nutzen waren und als Helden gefeiert wurden – wie zum Beispiel die früheren Taliban, auch Mudschaheddin genannt, in Afghanistan, als diese mit Unterstützung der CIA gegen die sowjetischen Besatzer kämpften. Nach dem Afghanistan-Krieg richteten sich die einstigen Helden nun gegen die, die sie mit erschaffen hatten. Nun waren sie Feinde und keine Opfer mehr. Die Situation hatte sich diametral zu dem entwickelt, wie sie einst sein sollte.

So beklagen nun alle Seiten Todesopfer und alle Seiten sehen sich im Recht. Denn ihre Opfer sind unschuldig gestorben, während die anderen es ja verdient hätten und Feinde sind.

Gegenwart

Die technologische Entwicklung, die Globalisierung und die Digitalisierung haben die Art und Weise, wie wir unser Umfeld wahrnehmen, sehr verändert. Was auf der anderen Seite der Welt passiert, landet in Sekundenbruchteilen auf unseren Smartphones, Tablets, Notebooks und Computern – ob wir es nun wollen oder nicht. Manchmal bedarf es nur ein paar Sekunden, bis sich Hinz und Kunz als einfache Bürger auf der Straße eine Meinung über Freund und Feind gebildet haben. In diesem Zusammenhang kann man getrost sagen, dass das Opfer ebenso wie der Feind digitalisiert wurde. Aber zu beurteilen, was in diesem Zusammenhang richtig oder falsch ist, fällt schon teilweise Experten und Wissenschaftlern schwer. Wie soll dann der unbescholtene Bürger eine korrekte Entscheidung darüber treffen können, wer Freund und wer Feind ist?

Allerdings muss es dieser auch gar nicht. Denn die „richtige“ Entscheidung zu treffen, wird ihm ohnehin von denen abgenommen, die ihre Machtinteressen, beispielsweise im Nahen Osten, vertreten. Und es geht für sie um viel – unabhängig davon, ob es sich nun um die westliche Welt handelt, um die Russische Föderation, um China oder die Welt des Islams. Alle spielen mit und nutzen die Macht der Darstellung als Opfer, der stetigen und digitalen Bilder, als Mittel zum Zweck, so wie es bereits vor über hundert Jahren war, als Max von Oppenheim und Lawrence von Arabien den Verbündeten vorhielten, dass ihre Schwestern und Brüder abgeschlachtet wurden. Weder Lawrence noch Oppenheim interessierten sich in Wirklichkeit für irgendwelche Opfer, außer für die eigenen. Ihnen war es egal ob Christen, Muslime, Atheisten, Kommunisten oder einfach Menschen starben. Sie nahmen diese Opfer bereitwillig in Kauf, weil sie sie – so wie heute – zu Märtyrern hochstilisieren konnten. Als Mittel zum Zweck. Als mediale Waffe.

Im digitalen Äther werden wir tagtäglich mit den Bildern von Opfern bombardiert. Wer dieser Entwicklungen überdrüssig geworden ist, der schaut nur noch weg und widmet sich seinem eigenen Leben in Deutschland oder einem anderen europäischen Land – bis eine Krise weitere Flüchtlingswellen auslöst und man vom Thema eingeholt wird. Unweigerlich wird man sich dann mit den Gegebenheiten und Faktoren beschäftigen müssen und ein „Opfer-Täter“-Bild entwickeln – mit einem besonderen Fokus auf die Medien, Fernsehen und Zeitungen, die darüber entscheiden, wie dieses Bild auszusehen hat.

Opfer von Kriegen – Was sind sie wert?

Am 15. April 2017 wurde beispielsweise in Syrien gezielt ein geplanter, rein ziviler, regierungsnaher Evakuierungskonvoi durch einen Selbstmordanschlag angegriffen. Laut Reuters sowie weiterer ernstzunehmender Quellen kamen mindestens 126 Menschen ums Leben – darunter 80 Kinder, die perfiderweise mit Kartoffelchips angelockt worden sein sollen sowie 13 Frauen. Die Evakuierung war zwischen dem syrischen Verbündeten Iran und dem Rebellen-Verbündeten Katar ausgehandelt worden, um schiitische Syrer zu evakuieren, die zwei Jahre lang in den von den Rebellen belagerten Städten Fua und Kafraja unter Nahrungsmittelknappheit ausharrten. Sie sollten in Regierungsgebieten in Sicherheit gebracht werden.

Der Selbstmordanschlag, der gezielt Schiiten galt, war verheerender als der nicht einmal zwei Wochen vorher stattgefundene Giftgasangriff auf die von den Rebellen gehaltene Stadt Chan Schaichun mit mindesten 86 Toten. Der Angriff auf Chan Schaichun führte zu einem massiven Aufschrei in der westlichen Welt und veranlasste US-Präsident Trump eine Bestrafungsaktion anzuordnen. Hingegen wurde über den Terroranschlag auf den schiitischen Konvoi in den westlichen Medien wenig berichtet. Eine scharfe Verurteilung des Angriffs erfolgte zwar durch den Papst, aber westliche Politiker hielten sich mit Reaktionen eher zurück. Der Grund für die mediale und die damit einhergehende politische Zurückhaltung liegt in der „Feind-Freund“-Betrachtung im Hinblick auf die schiitische Schutzmacht Iran. Man kann die Art und Weise dieses Umgangs mit den zwei Ereignissen auf zwei einfache Formeln bringen:

  1. Bist Du gerade mein Feind, sind die Toten auf deiner Seite kaum eine Erwähnung wert.
  2. Bist Du mein Freund, glorifizieren wir die Toten auf deiner Seite zu Opfern und schlachten sie mit möglichst viel Getöse und Propaganda aus, um den Bürger auf der Straße davon zu überzeugen, sich für unsere machtpolitische Sache einzusetzen.

Brutkastenlüge

Die große Effektivität der Strategie der Ausschlachtung von Opfern, kann man sich anhand der sogenannten „Brutkastenlüge“ veranschaulichen, die in die Geschichte einging und Auslöser für einen Krieg war, der eigentlich heute noch andauert.

Es wurde behauptet, dass irakische Soldaten bei der Invasion Kuwaits im August 1990 – der damalige irakische Diktator Saddam Hussein war durch die USA mehr oder weniger zu diesem Schritt ermutigt worden – angeblich kuwaitische Säuglinge in einem Krankenhaus aus den Brutkästen gerissen und getötet hätten. So jedenfalls erzählte es 1990 eine angebliche Krankenschwester mit dem Namen Nayirah as–Sabah unter Tränen im Kongress der Vereinigten Staaten.

Sie sagte wortwörtlich: „Ich habe gesehen, wie die irakischen Soldaten mit Gewehren in das Krankenhaus kamen…, die Säuglinge aus den Brutkästen nahmen, die Brutkästen mitnahmen und die Kinder auf dem kalten Boden liegen ließen, wo sie starben.“

Nach dem Krieg wurde bekannt, dass diese Krankenschwester die 15-jährige Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA, Saud Nasir as–Sabah, war. Der Vater saß damals ebenfalls im Kongress – als Zuhörer im Publikum. Die Geschichte stellte sich später als unwahr heraus. Doch die Lüge war geboren und die nie real existierenden Säuglinge dienten den USA als ein entscheidender Vorwand, um in den Krieg zu ziehen, der weitere Kriege und damit die Entstehung terroristischer Gruppierungen nach sich zog, die noch mehr Opfer forderten. Selbst eine Organisation wie Amnesty International veröffentlichte in einem 84–seitigen, umfassenden Bericht die Brutkastenlüge.

Ausblick

Nun sind Akteure weltweit nicht gewillt, von dieser medialen Waffe abzulassen. Zu verlockend sind die Emotionen. Das beste Beispiel dafür ist die Türkei. Durch den Putsch in der noch laizistischen Republik Kemal Atatürks konnte man die Opfer der Revolte auf Seiten der legitim gewählten Regierung hochstilisieren und zu Märtyrern erklären. Wer dem nicht zustimmte, war ein Feind, und er (oder sie) verhöhnte die Opfer der Mütter und Väter, die ihre Kinder auf dem Schlachtfeld der Demokratie verloren hatten. Im Gegenzug wurden und werden die toten Söhne und Töchter kurdischer Eltern in der Südosttürkei, die in einem de facto regional begrenzten Bürgerkrieg gefallen sind, als Terroristen gebrandmarkt. Sie haben nach Ansicht der türkischen Regierung den Opferstatus nicht verdient – ebenso wenig wie die Millionen massakrierten Christen damals im Osmanischen Reich, weil man sie als Kollaborateure der Briten, Russen und Franzosen betrachtete. Dies ist eine Entwicklung, die in der heutigen Türkei wieder aufflammt und besorgniserregend ist. Christen (Armenier, Griechen, Suryoye), Kurden, Aleviten, Alawiten, Juden und so weiter gelten in Teilen der Türkei inzwischen wieder als Feinde. Ihr Tod kann nicht mit denen der echten Opfer, nämlich ihren Opfern, gleichgesetzt werden.

Dabei weinen jedoch die Mütter und Väter aller Opfer die gleichen Tränen.

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Simon Jacob ist Vorsitzender des „Zentralrats Orientalischer Christen in Deutschland e.V. – ZOCD“. Im Rahmen des von ihm initiierten Projektes Peacemaker-Tour war er 2015/2016 als Friedensbotschafter des Zentralrats und freier Journalist im Nahen Osten unterwegs. In gut fünf Monaten legte Simon Jacob rund 40.000 km zurück und besuchte neben der Türkei, Georgien, Armenien und Iran auch die Krisengebiete in Nordsyrien und Nordirak.