Auf dem Gelände des Bundestages sind die Artikel 1 bis 19 des Grundgesetzes auf Glasstelen verewigt. Doch es fehlt die Verfassung im Kleinen – der Artikel 20. Er definiert Deutschland als föderale Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat – und steht für das Konzept der „wehrhaften Demokratie“. Die Kunstaktion „Tafelrunde“ will der Politik die fehlende Stele schenken. Ein Gastbeitrag und Aufruf von Ralph Boes.

Dieter Grimm, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, hat in der Geschichte der Europäischen Union (EU) eine „folgenschwere Verlagerung von Kompetenzen“ [1] ausgemacht. Es ist, so beschreibt es Rolf Lamprecht in seinem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung, eine schleichende illegitime Machtübernahme, die die Züge eines verdeckten Putsches trägt und die demokratischen Strukturen der Völker außer Kraft setzt. Die Organe der EU, der Europäischer Gerichtshof und die EU-Kommission entfernen sich nicht nur von demokratischen Prozessen innerhalb der Mitgliedstaaten, sondern verselbstständigen sich.

Ferdinand Kirchhof, der amtierende Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes, stellte in einem Beitrag in der FAZ fest, dass die Europäische Union vom Volk noch „recht weit“ entfernt sei und „weiterhin ein Programm der Elite“ pflege. In Deutschland ergebe sich ein Risiko für die Demokratie „aus der Entfernung des Regierungshandelns vom Parlament in staatswesentlichen Entscheidungen“. Die Bundesregierung würde eine Beteiligung des Parlaments zunehmend vermeiden und „jenes wehrt sich dagegen erstaunlicherweise nicht“. [2]

In der Lebenswirklichkeit spiegelt sich die genannte Kritik in zahlreichen Schattierungen wider: Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, Abkehr von der Entspannungspolitik, Privatisierung der Autobahnen, Einführung des Staatstrojaners und die damit verbundene Totalüberwachung der Bevölkerung, TTIP, CETA, Hartz IV oder das Verhalten in der Flüchtlingskrise, durch die Art der Grenzöffnung.

Der Staatstrojaner ist im Einsatz: Jedwede Kommunikation steht jetzt unter der Kuratel des Staates, jedwede Intimität in Computern ist von Ermittlern einsehbar. Schranken, die es beim Lauschangriff noch gab, gibt es nicht mehr. Warum lassen sich das die Bürger gefallen?

Heribert Prantl, in: Süddeutsche Zeitung [3]

Einzelne Handlungen sind verfassungswidrig, andere setzen Grundsätze der Demokratie praktisch außer Kraft, einige segeln hart am Wind der Verfassungswidrigkeit. Können sich die Menschen in Deutschland das ohne Widerspruch bieten lassen?

Die Politiker stehen im Sold der Bürger und sollen in ihrem Auftrag handeln – aber sie machen, was sie wollen. Und ausgerechnet im kommenden Jahr, am 23. Mai 2019, wird im Bundestag mit Pomp und Gloria der 70ste Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert werden – eben von jenen Politikern, die es längst geopfert haben.

Deutschland, Europa und die Welt sehen sich massiven Problemen ausgesetzt, für dessen erfolgreiche Lösungen oder historisches Scheitern nicht die Politik, sondern die Bürger selbst die Bürgen sein werden. Sie tragen jede Hypothek und die Verantwortung.

Werfen wir den Handschuh in den Ring, um den Politikern zu zeigen, wer der Souverän im Staat ist und wofür dieser Souverän sie ernannt hat.

Auf Glasstelen sind in Berlin die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes verewigt. (Foto: Ralph Boes)

Die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes wurden auf Glasstelen verewigt. Sie stehen in unmittelbarer Nähe zum Bundestag. Die Kunstaktion „Tafelrunde“ will der Politik eine Stele mit dem fehlenden Artikel 20, die Verfassung im Kleinen, schenken. (Foto: Ralph Boes)

Im Rahmen der Kunstaktion „Tafelrunde“ soll den Politikern am 23. Mai 2018 zum ersten Mal aus Bürgerhand ein längst ins Abseits geratener Teil des Grundgesetzes in Form einer selbst gestalteten und hergerichteten Stele nicht etwa übergeben, sondern dauerhaft vor dem Bundestag errichtet werden. Es soll ein Denkmal sein, das nicht vergessen wird.

Wer schon einmal den Bundestag umrundet hat, der kennt die Glasstelen, die zwischen den Gebäuden der Abgeordneten und der Uferpromenade stehen und quasi symbolisch zwischen dem Arbeitsbereich des Bundestages und dem öffentlichen Raum vermitteln.

Auf diesen Glasstelen werden die Artikel 1 bis 19 des Grundgesetzes beeindruckend schön präsentiert. Aber es gibt einen politischen Schönheitsfehler. Die neunzehn Artikel umfassen zwar die Grundrechte und die universell gültigen Menschenrechte, doch erst Artikel 20 beschreibt die Staatsstrukturprinzipien, also die demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und ihre unbedingte Anbindung an die Menschen- und Freiheitsrechte. [4] Und gerade dieser Artikel fehlt.

Grundgesetz Art. 20 besagt:

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Dieser Artikel 20 ist als Grundstein der BRD zu verstehen. Alles, was den Staat angeht, wird in ihm ausgesprochen, und zwar so grundlegend und vollständig, dass die Bundeszentrale für politische Bildung ihn als die „Verfassung im Kleinen“ bezeichnet. [5]

Er definiert die Bundesrepublik Deutschland als föderale Demokratie, als Rechtsstaat und Sozialstaat – und steht für das Konzept der „wehrhaften Demokratie“.

Dass ausgerechnet Artikel 20 in der Reihe der gläsernen Stelen am Reichstagsufer, diesem symbolischen Ort, fehlt, wodurch der wesentlichste Gründungsimpuls verschwiegen wird, ist erstaunlich – in gewisser Weise aber auch bezeichnend für den derzeitigen Zustand der Demokratie.

Dies ist der Ansatzpunkt für die Kunstaktion „Tafelrunde“: Wir wollen unseren Politikern die fehlende Stele schenken! Artikel 20 in Holz verewigt – als Aufforderung, sich danach zu richten und als tägliche Erinnerung auf dem Weg zur Arbeit.

Dafür brauchen wir Sie. Machen Sie mit. Verbreiten Sie die Informationen über die „Tafelrunde“. Helfen Sie uns vor Ort oder unterstützen sie unser Crowdfunding für die Kunstaktion, um gemeinsam die Politik zur Besinnung zu bringen.


[1] Süddeutsche Zeitung, Die dunkle Seite, 28.02.2016: http://www.sueddeutsche.de/politik/europa-die-dunkle-seite-1.2883401 [abgerufen: 19.03.2018].
[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung, Demo-crazy?, 21. Dezember 2017: https://iem-europe.com/attachments/5/1513957346/ [abgerufen: 19.03.2018].
[3] Süddeutsche Zeitung, Die digitale Inquisition hat begonnen, 27. Januar 2018: http://www.sueddeutsche.de/digital/staatstrojaner-die-digitale-inquisition-hat-begonnen-1.3843494 [abgerufen: 21.03.2018].
[4] Artikel 20 GG auf: https://dejure.org/gesetze/GG/20.html [abgerufen: 19.03.2018].
[5] Art. 20 GG auf Bundeszentrale für politische Bildung, Die Garantien des Grundgesetzes, 31. Mai 2012: http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138720/die-garantien-des-grundgesetzes [abgerufen: 19.03.2018].


Weiterführende Informationen:
Träger der Aktion „„Tafelrunde“: Verein zur Erneuerung der Bundesrepublik an ihren eigenen Idealen e.V.
Verantwortlich für die Aktion: Ralph Boes
Telefon: 030 – 49 91 16 47
E-Mail: ralphboes-buero@gmx.de

Der Originalartikel kann hier besucht werden