Von Michail Gorbatschow. Dieser Brief an die Führer der USA und Russlands wurde ursprünglich in der Washington Post veröffentlicht.

Im kommenden Dezember wird der 30. Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten über die Abschaffung von Mittel- und Kurzstreckenraketen gefeiert. Dies war der Beginn des drastischen Abbaus der Nukleararsenale, der mit den Verträgen über die Reduzierung der strategischen Waffen von 1991 und 2010 und den Vereinbarungen zur Reduzierung taktischer Atomwaffen fortgesetzt wurde.

Die Größenordnung des 1987 eingeleiteten Prozesses zeigt sich daran, dass 80 Prozent der während des Kalten Krieges angesammelten Atomwaffen außer Dienst gestellt und zerstört wurden, wie Russland und die Vereinigten Staaten 2015 bei der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag berichten. Eine weitere wichtige Tatsache ist, dass sich beide Seiten trotz der jüngsten gravierenden Verschlechterung der bilateralen Beziehungen an die strategischen Waffenabkommen halten.

Der Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) ist jedoch jetzt in Gefahr . Es hat sich als das verwundbarste Glied im System der Begrenzung und Reduzierung von Massenvernichtungswaffen erwiesen. Auf beiden Seiten wurde gefordert, die Vereinbarung zu streichen.

Was passiert also, was ist das Problem und was muss getan werden?

Beide Seiten haben Fragen der Einhaltung angesprochen, indem sie den anderen beschuldigen, die wichtigsten Bestimmungen des Vertrages verletzt oder umgangen zu haben. Von außen betrachtet, ist es schwierig, diese Vorwürfe zu bewerten, da es keine vollständigen Informationen gibt. Eines ist jedoch klar: Das Problem hat sowohl einen politischen als auch einen technischen Aspekt. Es liegt an den politischen Führern, Maßnahmen zu ergreifen.

Deshalb appelliere ich an die Präsidenten Russlands und der Vereinigten Staaten.

Die Beziehungen zwischen den beiden Nationen befinden sich in einer schweren Krise. Ein Ausweg muss gesucht werden, und es gibt ein bewährtes Mittel, um dies zu erreichen: ein Dialog, der auf gegenseitigem Respekt basiert.

Es wird nicht leicht sein, die Blockade auf beiden Seiten zu durchbrechen. Aber auch vor drei Jahrzehnten war unser Dialog nicht einfach. Er hatte seine Kritiker und Gegner, die versuchten, ihn zu verhindern.

Letztendlich war es der politische Wille der Führer beider Nationen, der sich als entscheidend erwies. Und das ist es, was jetzt gebraucht wird. Das ist es, was die Bürger unsere beiden Länder und die Menschen weltweit von den Präsidenten Russlands und der Vereinigten Staaten erwarten.

Ich fordere Russland und die Vereinigten Staaten auf, einen umfassenden Gipfel über die gesamte Bandbreite der Themen vorzubereiten und abzuhalten. Es ist alles andere als normal, dass die Präsidenten der großen Atommächte sich nur „am Rande“ internationaler Zusammenkünfte treffen. Ich hoffe, dass der Prozess der Vorbereitung eines richtigen Gipfels gerade jetzt am Laufen ist.

Meines Erachtens sollte sich das Gipfeltreffen auf die Probleme der Reduzierung von Kernwaffen und die Stärkung der strategischen Stabilität konzentrieren, denn sollte das System der nuklearen Rüstungskontrolle zusammenbrechen, wie es bei der Kündigung des INF-Vertrages wohl der Fall sein kann, werden die direkten und indirekten Konsequenzen verheerend sein.

Je näher die Atomwaffen an den Grenzen sind, desto gefährlicher sind sie: Es bleibt weniger Zeit für eine Entscheidung und das Risiko eines katastrophalen Fehlers ist größer. Und was passiert mit dem Atomwaffensperrvertrag, wenn das nukleare Wettrüsten von neuem beginnt? Ich fürchte, er wird erledigt sein.

Wenn jedoch der INF-Vertrag gerettet wird, sendet das ein starkes Signal an die Welt, dass sich die beiden größten Atommächte ihrer Verantwortung bewusst sind und ihre Verpflichtungen ernst nehmen. Alle werden aufatmen und die Beziehungen zwischen Russland und den Vereinigten Staaten werden endlich wieder in Gang kommen.

Ich bin zuversichtlich, dass die Vorbereitung einer gemeinsamen Erklärung der Präsidenten zum Engagement der beiden Länder für den INF-Vertrag ein realistisches Ziel ist. Gleichzeitig könnten auch die technischen Probleme gelöst werden. Zu diesem Zweck könnte die gemeinsame Kontrollkommission nach dem INF-Vertrag ihre Arbeit erneut aufnehmen. Ich bin davon überzeugt, dass die Generäle und Diplomaten mit einem Anstoß der beiden Präsidenten eine Einigung erzielen könnten.

Wir leben in einer unruhigen Welt. Besonders beunruhigend ist, dass die Beziehungen zwischen den großen Atommächten, Russland und den Vereinigten Staaten, zu einer ernsthaften Quelle von Spannungen und zu einer Geisel der Innenpolitik geworden sind. Es ist Zeit, zur Vernunft zurückzukehren. Ich bin mir sicher, dass selbst eingefleischte Gegner der Normalisierung der amerikanisch-russischen Beziehungen es nicht wagen werden, den beiden Präsidenten zu widersprechen. Diese Kritiker haben keine Argumente auf ihrer Seite, denn die Tatsache, dass der INF-Vertrag seit 30 Jahren in Kraft ist, beweist, dass er den Sicherheitsinteressen unserer beiden Länder und der Welt dient.

Bei jedem Unterfangen ist es wichtig, den ersten Schritt zu tun. 1987 bildete der INF-Vertrag den ersten Schritt im schwierigen, aber lebenswichtigen Prozess die Welt von Atomwaffen zu befreien. Heute stehen wir vor der doppelten Herausforderung, den Zusammenbruch des Systems der Nuklearabkommen zu verhindern und die Abwärtsspirale in den amerikanisch-russischen Beziehungen umzukehren. Es ist Zeit, den ersten Schritt zu tun.

Übersetzung aus dem Englischen von Valentin Grünn