Als am 9. August der internationale Tag der Indigenen gefeiert wurde, war wohl wenigen zum Feiern zumute. In Brasilien leben rund 900.000 Ureinwohner marginalisiert, ohne Lobby in einem Staat, der einst getätigte Zugeständnisse inzwischen aufweicht, aushöhlt und revidiert.

Aus Sicht der brasilianischen Regierung sind die Ureinwohner und deren Schutzgebiete im Weg, wenn es um den wirtschaftlichen Fortschritt des Landes geht. Holzeinschlag, Ausweisung von Agrarflächen für Sojaanbau oder Viehzucht oder Bergbaugebiete – all diese Bestrebungen gehen zunehmend auf Kosten der Ureinwohner Brasiliens. Oft werden diese gewaltsam vertrieben oder gleich getötet. Der Staat schaut dabei gerne weg. Brasilien gilt als Weltmeister im Töten von Indigenen und Umweltaktivisten. Konkrete Beispiele für Gewalt gegen indigene Völker sind in diesem Text aufgezählt.

Abholzung per Dekret

Jüngstes Beispiel: Per Dekret verkündete Präsident Michel Temer vorige Woche, ein Schutzgebiet mit einer Fläche von 47.000 Quadratkilometern, in etwa die Größe von Niedersachsen, dem Bergbau zu opfern. In der Region werden unter anderem Gold, Kupfer und seltene Erden vermutet. Dabei waren die Flächen seit 1984 als Schutzflächen ausgewiesen. 30 Jahre Umwelt-, Arten- und Indigenenschutz würden dadurch einen herben Rückschlag erfahren.

„Renca“ wird das Gebiet genannt. Das Akronym steht für „Reserva Nacional de Cobre e Associados“ – Nationale Reserve für Kupfer und andere Stoffe. Innerhalb dieses Gebiets liegen nicht weniger als neun Nationalparks und Schutzgebiete: Der Parque Nacional Montanhas do Tumucumaque, As Florestas Estaduais do Paru e do Amapá, das Reserva Biológica de Maicuru, die Estação Ecológica do Jari, das Reserva Extrativista Rio Cajari, das Reserva de Desenvolvimento Sustentável do Rio Iratapuru und die Gebiete der indigenen Stämme der Waiãpi e Rio Paru d`Este.

Über bestehende Umweltgesetze hinweg

Eigentlich verbieten brasilianische Umweltschutzgesetze den Bergbau in geschützten Gebieten. Einzige Ausnahme: Für ein solches Gebiet besteht ein sogenannter Managementplan. Diese sind dazu gedacht, geplante Extraktionen in halbwegs geordneten Bahnen ablaufen zu lassen und die Eingriffe zu regulieren. Laut der Naturschutzorganisation WWF besteht zurzeit aber nur für genau eines der neun Gebiete ein solcher Managementplan.

Und für die anderen dürften auch keine mehr angefertigt werden. Denn der Prozess braucht Zeit, es müssten gegebenenfalls Kompromisse geschlossen werden, ähnlich wie bei einem Flächennutzungsplan in Deutschland. Diese Zeit will sich Temer aber nicht nehmen. Sonst hätte er den Entschluss sicherlich nicht per Dekret vorangetrieben. So lassen sich lästige Anhörungen und Kompromissfindungen umgehen.

Kritik von allen Seiten

Acht Senatoren aus der Region kritisieren das Dekret. Senator Randolfe Rodrigues von der Partei Rede AP kritisiert die Pläne als größten Angriff auf den Amazonas in den letzten 50 Jahren und kündigte an, vor den Bundesgerichtshof zu ziehen. Michel de Souza Santos vom WWF bemängelt das Fehlen von Dialog und Transparenz. Zudem erinnert er an die internationalen Verpflichtungen in Sachen Klimaschutz, die auch für Brasilien bindend sein sollten. „Diese sind zu berücksichtigen“, sagt er.

Als einzige Reaktion international wirklich wahrgenommen wurde ein Tweet des brasilianischen Supermodels Gisèle Bündchen. Sie sprach von einer „Schande“ für Brasilien und mischte sich damit zum wiederholten Mal in diesem Sommer in die politische Debatte des Landes ein. Erst im Juni hatte sie Präsident Temer öffentlich aufgefordert, bei der Legalisierung der Erschließung anderer Amazonasregionen von seinem Vetorecht gebraucht zu machen. Was er auch tat.

Allerdings wohl kaum wegen Bündchen. Der G-20 Gipfel in Hamburg stand vor der Türe. Und Temer, innenpolitisch seit Monaten unter Dauerdruck, wollte wohl nicht auch noch auf der großen Weltbühne der Politik die Leviten gelesen bekommen, zumal US-Präsident Donald Trump wenige Wochen zuvor den Ausstieg aus dem Klimaschutzabkommen von Paris angekündigt hatte. Wäre die Erschließung beschlossen worden, hätte dies als ein ähnliches Signal aus Brasilia gewertet werden können.

Außenpolitisch zahm

Temers Taktik ging aber nicht auf. Beim Staatsbesuch in Norwegen kurz drauf wurde er öffentlich abgewatscht. Die norwegische Regierung kündigte ihm ins Gesicht an, die Zahlungen des Amazonas-Fonds um 50% zu kürzen, weil die aktuelle brasilianische Regierung in Augen der Norweger zu wenig für den Schutz des Gebiets tut. Bislang zahlte Norwegen jedes Jahr 100 Mio. Euro jährlich für Umweltschutzmaßnahmen in Brasilien und ist damit der größte internationale Geldgeber.

Innenpolitisch skrupellos

Innenpolitisch spielt Michel Temer ein komplett anderes Spiel. Schließlich ist Temer – wenn es für ihn gut läuft und nicht doch noch ein Amtsenthebungsverfahren seine Präsidentschaft beendet- nur noch ein gutes Jahr im Amt. Zu verlieren hat er nicht viel. Außerdem setzt die Regierung nicht auf nachhaltiges Tun, sondern auf schnelle Effekte – auch um das öffentliche Meinungsbild über sich zu verbessern. Temers Zustimmung innerhalb der Bevölkerung liegt im einstelligen Bereich.

Privatisierung auf Teufel komm raus

Die Regierung Temer setzt auf schonungslosen Ressourcenabbau und Privatisierung. Nachdem bereits einige Flughäfen neue Betreiber fanden (u.a. Fraport) wurde vorige Woche eine Liste mit weiteren staatlichen Betrieben öffentlich, die die aktuelle Regierung versilbern möchte. Darunter unter anderem die brasilianische Bundesdruckerei und den Energieversorger Eletrobras.

Vor einigen Monaten reklamierte die Regierung ein geringes Wirtschaftswachstum für sich. Bei genauerem Hinsehen wurde jedoch deutlich, dass dies ausschließlich einem massiv gesteigerten Sojaanbau geschuldet ist. 2017 ist ein Rekorderntejahr – 20% mehr als 2016. Oder in absoluten Zahlen: 144 Millionen Tonnen. Brasilianisches Soja ist ein wichtiges Tierfuttermittel. Auch in Europa. Brasilianisches Soja ist zu 100% genverändert. Der Ernteerfolg war hoch erkauft. Die Regenwaldabholzung lag 30% über der des Vorjahres: 8000 Quadratkilometer – gut drei Mal die Fläche des Saarlands. Meist fanden die Abholzungen illegal statt.

Senatorentochter begünstigt?

Das Hauptinteresse der Bergbauunternehmen am Renca-Gebiet dürften sich auf dem Reserva Biológica de Maicuru konzentrieren. Dort werden große Mengen von Gold und Kupfer vermutet. Angeblich sollen neben brasilianischen Firmen vier ausländische Großunternehmen an der Ausbeutung der Bodenschätze interessiert sein. Das heißt im Klartext: Gewinne fließen ins Ausland ab, während Brasilien bzw. die Bewohner der Region auf den Folgen sitzen bleiben.

Wobei nicht ganz: 90.000 Hektar Abbaufläche hat sich auch das brasilianische Bergbauunternehmen Boa Vista Mineração gesichert. Den größten Teil der Unternehmensanteile hält Marina Jucá, Tochter des Senators Romero Jucá. Jucá gilt nicht nur als einer der loyalen Unterstützer und als Parteifreund Temers beim Amtsenthebungsverfahren gegen Ex-Präsidentin Dilma Rousseff. Anfangs war er sogar elf Tage lang Minister der Übergangsregierung Temers, stolperte jedoch nach wenigen Wochen über eine Abhöraffäre.

Auch gegen ihn wird im Korruptionsprozess Lava Jato ermittelt. Darüber hinaus war Jucá von Mai 1986 bis September 1988 Präsident der FUNAI (Fundacao National do Indio), die staatliche Behörde, die die Belange und Rechte der indigenen Bevölkerung Brasiliens vertreten soll.

FUNAI ausgehöhlt

Die Behörde verfolgte bis in die späten 1980er Jahre eine Politik der Integration und Assimilation indigener Völker, die erst später einer zunehmenden Politik der Selbstbestimmung der indigenen Völker wich. Noch heute wird die Behörde von Angehörigen indigener Völker teilweise kritisch gesehen, da sie sehr bürokratisch arbeite und immer wieder Personal berufen wird, das sich offen gegen die Rechte indigener Völker ausgesprochen hat. So sollte im Herbst 2016 ein früherer Militärgeneral aus Chef der Behörde eingesetzt werden.

Jucá war während seiner Amtszeit vor allem dadurch aufgefallen, dass er den Personalapparat der Behörde aufgeblasen hatte. Die Zahl der Mitarbeiter stieg alleine in seinem Wahlgebiet binnen kurzer Zeit um mehr als 400 Personen.

Zuständigkeit verschoben zum Wohl der schnellen Entscheidung

Inzwischen wird die FUNAI vom der Regierung regelrecht entschärft. Anfang dieses Jahres wurde die Zuständigkeit für die Behörde zum Justizministerium verschoben. Das gefiel selbst Offiziellen der FUNAI nicht. Sie befürchteten, dass dadurch Anthropologen und andere Experten von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen und zugleich der Entscheidungsprozess beschleunigt werden sollen. Offenbar funktioniert dies bereits. Wie das schweizer Brasilienportal berichtet, soll die “Terra Indígena do Jaraguá“ im Norden Sao Paulos wieder verkleinert werden – von knapp 512 auf 3 Hektar Fläche. Das Justizministerum kassiert damit einen Beschluss aus dem Jahr 2015 ein. Offizielle Begründung: Ein Verwaltungsfehler.

Das ist aus Sicht der Regierung durchaus sinnvoll. Denn betrachtet man die Landkarte stellt man fest, dass die Lebens- und Schutzräume indigener Völker und die Gebiete mit großen Mineralvorkommen eine ziemlich hohe Deckung ausweisen.

Kontakt zur Außenwelt kann tödlich sein

Will man also an die Bodenschätze ran, kommt man unweigerlich mit den Ureinwohnern in Berührung. Bislang war es in Brasilien so geregelt, grob gesagt, dass die Schutzgebiete den Völkern ermöglichen sollen, weiterhin in Abgeschiedenheit und ohne Kontakt zur Zivilisation leben zu können. Das ist für die Naturvölker nicht unwichtig, denn Personen, die in deren Gebiet eindringen, bringen nicht selten Krankheiten und Erreger mit, die dort bis dato völlig unbekannt waren und verheerende Wirkung haben können. Etwa vier Generationen dauert es, bis die Volksstämme bei Außenkontakt dauerhafte Resistenzen aufbauen können, schätzen Fachleute, etwa Roberta Aguiar Cerri Reis vom Departamento de Atenção à Saúde Indígena. 

Kommen nun Bergbaufirmen und deren Mitarbeiter, schleppen sie unweigerlich Krankheiten ein, die einzelne Völker akut bedrohen könnten.

Diese brasilianische Praxis hatte zudem eine Vorreiterrolle für andere südamerikanische Länder, galt bislang für einige als Vorbild. In Peru beispielsweise handhabt man die Schutzgebietsausweisung ähnlich. Das setzt Temer nun ebenfalls aufs Spiel. Auch das Renca-Gebiet ist teilweise Schutzgebiet für Indigene. Dort leben die Aparai und Wayana.

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