Die Wahlkampfthemen für 2017 nehmen Kontur an. SPD-Chef Sigmar Gabriel beanstandet eine „Sehnsucht nach politischer Kultur“ und meint damit nichts Geringeres als die „Jedermanns-Pflicht für Respekt und Anstand“. Gleichzeitig hat die CSU ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet, das den vielsagenden Namen „Die Ordnung“ trägt. Auch hier fallen Signalwörter wie „Leitkultur“ oder „Starker Staat“. Vorbei die Steuerthemen und Rentenniveaus, 2017 geht’s um Identität. Eine Vermutung.

Kampf der Kulturen

Kulturelle Wahlkämpfe sind durch und durch sozialpsychologisch. In ihren Auseinandersetzungen um Deutungs- und Geltungshoheit beschwören sie Geschichtsnarrative deren erklärtes Ziel die einheitliche Identität einer Gesellschaft ist. Weiter sind kulturelle Themen einschlägige Mittel, um gemeinsame Erinnerungen an Orte und Ereignisse zu schaffen. Daraus erwachsen Handlungsanleitungen sowie Vorbildfunktionen, an denen sich eine Gesellschaft als Ganzes orientieren soll.

Die Erinnerungen nehmen oftmals eine Verzerrung der wahren Ereignisse in Kauf, um die Geschichte ganz im Sinne eines bestimmten Zweckes zu formulieren. Sozialwissenschaftlich gibt es deshalb die Methode der Quellenkritik, um solche Mythen zu entlarven. Die Frage ist also, an welchen Ereignissen wird sich die Leitkultur-Debatte orientieren?

Einbildung und Träumerei

Mit anderen Worten, die symbolische Kraft kultureller Ereignisse und deren Festsetzung im kollektiven Gedächtnis kann letztendlich Einbildung und Träumerei in die Wirklichkeit übertragen. Es sind spirituelle Interpretationen bestimmter Themen, die zuvorderst einen von mehreren Individuen getragenes Moment beherbergen und einen gemeinsamen Kult bedingen, worin auch magisch anmutende Ereignisse nicht fehlen dürfen. Alle großen Weltreligionen zeugen davon. Aber warum diese Themenwahl?

Vereinfacht gesagt, die globale Welt ist komplex. Individuen nehmen unmittelbar wahr, ob analog oder digital, wie sich ihre von klein auf bekannte Welt verändert. Und das sehr schnell. Das als sicher erlernte, kindlich-sozialisierte Handlungswissen ist nicht immer auf die sich verändernde Umweltsituation anwendbar. Unsicherheit und Desillusionierung sind potentielle Folgen. Diese normative Orientierungslosigkeit führt zu einem natürlichen Bedürfnis nach stabilen, gesellschaftlichen Strukturen und einer gefestigten Identität.

Neue Klassenverhältnisse

Zudem dürfte es relevant sein, wie sich die gesellschaftliche Ungleichheit in den Augen der Menschen offenbart. So sind heutzutage weniger die Gesellschaftsstrukturen nach Einkommen gegliedert, als auf den neu geschaffenen Klassenverhältnissen basierend auf der Theorie des politisch korrekten. Unrecht und Ungleichheit entsteht durch sexuelle Orientierung, Geschlecht, Rasse, Bildung. Das zwingt die Politik zu einer Neutralität in Sachen Moralisierung. Deren Folge sind unscharfe politische Formulierungen und eine kugelsichere PR.

Anstatt klare Kante zu zeigen, flüchten sich Politiker gerne in abstrakte Formulierungen um in Sachen Moralisierung keine widersprüchlichen und benachteiligenden Statements zu verlautbaren. Denn diese wären nichts anderes als respekt- und anstandsloses Palaver, wie der EU-Kommissar Oettinger kürzlich eindrucksvoll bewies. Kurz, professionelle Wählerparteien müssen ihr Programm nach den Umfragen richten, deren Ergebnisse die potentiell höchste Wählerschaft versprechen und sich dabei auf allgemein gehaltene Rhetorik verlassen. Nur so können liberaldemokratische, egalitäre Grundsätze der Menschenrechte eingehalten werden.

Wähler als potentielle Kunden

Diese Art der Rhetorik missverstehen viele als Zensur. Dabei wird vergessen, dass die bundesdeutschen Parteien sich unlängst von Volksparteien zu professionellen Wählerparteien gewandelt haben. Das heißt, durch Umfragen und finanzielle Investments in Kommunikationsberatung kämpfen Parteien nach allen Regeln des Marktes (sic!) um potentielle Wähler. Obamas Wahlkampf von 2012 hat jene Big-Data-basierten Strategien eindrucksvoll offenbart.

Und das wiederum verärgert die Stammwähler, die sich um ihre eigene Klientel betrogen fühlen. Nicht von ungefähr sind in westlichen Ländern Protestwähler die reaktionären Bewegungen wie UKIP, Front National oder AfD ein Großteil Personen jenseits der 50. Für sie hat sich in den vergangenen Jahren die Wahrnehmung der Lebenswelt besonders verändert. Auch der beschlossene Brexit verdankt seinen Erfolg den älteren Mitgliedern der Gesellschaft.

Alte Leute wählen

Wie gesehen gehen jene Alten besonders gerne zur Wahlurne. Sie empören sich über den gesellschaftlichen Wandel und die neue Professionalität der Parteien. Sie sind es, die sicherlich eine Mitursache für das Wahlkampfthema „Kultur“ tragen. Denn in den neuen Klassenverhältnissen sind sie, europäisch, weiß, heterosexuell, gebildet, garantiert nicht in einer ungerechten Situation, sondern gelten im globalen Maßstab als privilegiert.

Deren Geschichtsnarrativ ist vor allem von einschlägigen Ereignisse geprägt wie Weltkrieg, 1968, Kalter Krieg. Dort verankern sie ihre Normen und ihre Leitbilder für das Zusammenleben. Solche Erinnerungskulte reduzieren das Geschichtsbild und schlagen sich in einer als eindeutig zu definierenden Weltsicht nieder die Gewissheit über das eigene Sein verschafft. Nun aber zeigt sich, was einzig logische Konsequenz moderner Politik ist. Die global-politischen Fortschrittsnarrative haben die Geschichtsnarrative abgelöst und münden in eine Vielzahl von Identitätsfragen.

Die leere Demokratie

Denn so wie eine Demokratie prinzipiell leer ist, das heißt wie bspw. Facebook, das lediglich den Rahmen für einen Austausch von Individuen zur Verfügung stellt, während die eigentliche Interaktionsmodi von den Individuen selbst bestimmt wird, so ist auch eine Demokratie nichts anderes als ein Gefüge, das sich zu füllen, zu konkretisieren versucht. Diese Unvollständigkeit wird immer dann kompensiert, wenn politische Ambivalenzen und Relativierungen, aber keine kollektiven Narrative die Debatte beherrschen.

Dann kommen vermeintlich demokratische Inhalte zur Sprache, die letztlich doch antidemokratisch sind, Volksentscheide etwa, wodurch Partikularinteressen unterlaufen werden und allein das Kollektiv von Bedeutung ist. Hierin ist der Drang nach ontologischen Wahrheiten besonders stark. Das sind entweder Ideologien, aber auch politische Theorien, kurz, gesamtgesellschaftliche Kulte, die einen neuen Mythos kreieren sollen, der zu einem neuen Gemeinschaftsgedächtnis führen soll und nicht anderes bedeutet, als die verkörperte Simulation des Einzelnen mit der überstellten, mythisierten Wahrheit eines Kollektivs.

Verkörperte Simulation

Und genau diese verkörperte Simulation soll in einem kulturell geprägten Wahlkampf definiert werden. So hat das John Stuart Mill Institut in Heidelberg im September eine Umfrage durchgeführt, deren Ergebnis einen Langzeittrend von mehr Höflichkeit und gutem Benehmen als Forderung für Kindererziehung und sozialem Miteinander eruierte. Das zeigt, dass wahrlich eine Sehnsucht nach konformer Kultur existiert und die großen deutschen Parteien tatsächlich ihr Potential zu professionellen Wählerparteien erkannt haben.

Nun sind das sublime Entwicklungen, die seicht den langsamen, demokratischen Prozess begleiten. Doch das Wort Kultur in einen politischen Wahlkampf zu transportieren, war schon immer ein Alleinstellungsmerkmal jener Auseinandersetzungen, die heute das verzerrte Geschichtsnarrativ prägen. Wie der Philosoph Christoph Türcke schrieb, können Menschen nicht anders als den Verlust der instinktgetriebenen Einheit mit der Natur durch Kultur zu kompensieren. Das Dilemma ist, dass solche Wahlkampfthemen unvermeidlich sind für identitätsorientierte, strukturelle Organisation einer Gesellschaft.

Die Beschwörung der Gefahr

Damit tritt jene Entwicklung zutage, die als Reaktion auf den hegemonialen, liberaldemokratischen Konsens zu deuten ist. Und es sind solche globalen Ereignisse die dies hervorbringen, die bereits in der Geschichte politische Euphorie verbreiteten. Was bspw. In der französischen Revolution zählte, war nicht die gewalttätige, blutige Konfrontation oder die traurigen Morde, sondern die Begeisterung die jene Umwälzungen im externen Betrachter auslösten: dass eine kulturell kollektive Form politischer Gestaltung möglich ist.

Angetrieben von vermeintlich gerechteren Idealen und einer spirituell anmutenden Gemeinschaft, worin jeder lediglich die eigenen Werte und Normen verkörpern und simulieren muss, und diese sogleich zum Gesetze machen kann. Umwälzungen sind Ereignisse, wo wahrhafte Authentizität noch beobachtet werden kann, so wie dies die russische Oktoberrevolution oder die maoistische Kulturrevolution bei vielen externen Beobachtern hervorrief. Was zählt sind nicht brutale Gewalt, Unterdrückung Andersdenkender, sondern das Spektakel, das medial transportiert wird und den psychologischen Durst nach Erlebnis stillt.

Der gemeinschaftliche Wille

So schrieb der Philosoph Michel Foucault, der sich zuvor von der iranischen Revolution 1979 hat anstecken lassen „der gemeinschaftliche Wille ist ein politischer Mythos, mit dessen Hilfe Rechtswissenschaftler oder Philosophen Institutionen und dergleichen zu analysieren oder zu rechtfertigen versuchen […] Den gemeinschaftlichen Willen hat noch niemand gesehen, und ich selbst sah im gemeinschaftlichen Willen so etwas wie Gott oder die Seele, denen man niemals begegnet […] Ich weiß nicht, ob ihr mir da zustimmt, aber in Teheran und im ganzen Iran sind wir dem gemeinschaftlichen Willen eines Volkes begegnet.“ Hier liegt auch der Reiz der Sache.

Das Verspüren und Erleben des gemeinschaftlichen Willens als Verschmelzen zu einem Großen und Einheitlichen schafft ein konformes Kollektiv, das sich nach außen hin abgrenzt und nach innen Homogenität beanstandet. Es geht es also weniger um die sozialpolitische Transformation von Herrschafts- und Machtbeziehungen, sondern um Transzendenz, um die vorübergehende Aufhebung einer politischen Seinsart des Miteinanders, um den gemeinschaftlichen Willen einer Bevölkerung als ein reines Sinn-Ereignis darzustellen, worin dann schlussendlich Differenzen beseitigt werden. Identität orientiert sich so nicht an individuellen Vorlieben, sondern am abstrakten Übergeordneten, an der leeren Demokratie, die gefüllt auch gerne total werden kann.