Gino Strada, Mediziner und Chirurg, ist Mitbegründer von Emergency, einer italienischen humanitären Organisation, die seit 1994 Opfer von Krieg und Armut kostenfrei medizinisch versorgt. Er wird am 30. November an der Verleihung des Right Livelihood Award in Stockholm teilnehmen. Dieser Preis wird alljährlich jenen Personen verliehen, die sich für die Verteidigung von Menschenrechten, von Frieden, Abrüstung und der Umwelt engagieren. Krieg, Gewaltfreiheit und das Recht auf medizinische Versorgung sind einige der Themen, über die wir mit ihm in diesem Interview gesprochen haben.

Beginnen wir mit einem aktuellen Thema: die französischen Bombardements nach den Anschlägen von Paris und das von der Türkei abgeschossene russische Flugzeug nähren die Spirale der Gewalt, die uns zu der dramatischen Situation geführt hat, in der wir uns momentan befinden. Was kann man Ihrer Meinung nach tun, um diese Richtung zu ändern und um die bewaffnete Aggression durch einen Dialog zu ersetzen?

Die Entscheidung zum Krieg wurde vor fast 15 Jahren getroffen, im Jahr 2001, nach einem terroristischen Akt, der die öffentliche Meinung nicht nur wegen tausender Opfer, sondern auch durch das große Medienecho erschüttert hat, das ihn begleitete. Damals begann der „Krieg gegen den Terror“, wie ihn Bush ausrief, für mindestens fünfzig Jahre. In 14 dieser fünfzig Jahre haben wir gesehen, wie sich dieser Krieg entfaltete, in vielen Formen und an verschiedenen Orten, von Bombardements über Drohnen bis hin zu terroristischen Anschlägen.

Nehmen wir das Beispiel Afghanistan: unglaubliche Summen wurden ausgegeben – manche Zahlen sprechen von 5 Milliarden Dollar pro Monat allein durch die Vereinigten Staaten – die Toten, Verletzten und Verstümmelten belaufen sich in die Tausende, die dadurch in Armut gestürzten in die Millionen, und was wurde erreicht? Die Taliban kontrollierten 60% des Gebietes, heute sind es sogar 80% und das Land ist zerstörter als zuvor. Wenn man diese Summen anders ausgegeben hätte, wäre Afghanistan heute ein Vorzeigeland für Gesundheitswesen, Bildung und Lebensqualität. Die Entscheidung zum Krieg führt nur zu Zerstörung und davon abgesehen, dass sie ethisch und moralisch krank ist, ist sie auch töricht. Es ist illusorisch zu glauben, dass Probleme so gelöst werden können. Der Krieg ist eine Monstrosität, eine Schande, die aus der Geschichte der Menschheit verbannt gehört, so wie die Sklaverei. Das wiederholen seit Jahrhunderten die großen Denker, von Erasmus von Rotterdam bis Einstein. Es mag wohl ein langer Prozess sein, aber es ist die einzige Alternative, um der Menschheit eine Zukunft zu sichern. Diese Erkenntnis muss ins Bewusstsein der Menschen dringen, damit diese Druck auf die Regierungen ausüben, auf die Reichen und Mächtigen, für die der Frieden kein Wert ist.

Kriege wurden schon immer von Reichen und Mächtigen ausgerufen, die dafür Ausreden und Lügen benutzten, um von den Völkern akzeptiert zu werden, aber gestorben sind dabei immer die Söhne der Armen.

Der 2. Oktober, der Geburtstag von Gandhi, wurde von der UNO zum internationalen Tag der Gewaltfreiheit ausgerufen. Betrachten Sie Gewaltfreiheit als Teil der „anderen Kultur, die auf Gleichheit und Respekt für Menschenrechte basiert“ und von der Sie in Ihrer Erklärung anlässlich Ihrer Verleihung des Right Livelihood Award 2015 gesprochen haben?

Ich würde sagen, sie ist ein Teil davon, ein entscheidender Wert. Menschliche Beziehungen, aufgebaut auf Gewaltfreiheit, auf Toleranz und gegenseitigem Respekt, sind fundamental, um aus dieser Spirale der Gewalt auszubrechen und um das Konzept des Krieges zu eliminieren.

Sie behaupten, dass „medizinisch versorgt zu werden ein fundamentales Menschenrecht ist“, dennoch scheint ein öffentliches, kostenfreies und adäquates Gesundheitswesen für alle nicht nur in den Kriegsgebieten, sondern auch im Okzident inzwischen eine Utopie. Was kann man tun, um diese unglückselige Tendenz umzukehren?

Das behaupte nicht ich, sondern die universelle Erklärung der Menschenrechte, die von zahlreichen Staaten unterzeichnet wurde und die das aber allzu leicht wieder vergessen: auch zu diesem Thema gibt es viel Gerede, aber keine Taten. Medizinische Versorgung ist ein Grundrecht und hängt direkt mit der Möglichkeit zusammen, auf dieser Welt zu existieren oder nicht; ohne dieses Grundrecht verlieren alle anderen Rechte ihre Bedeutung.

Das Problem ist, dass das Gesundheitswesen, wie viele andere Bereiche, von der Logik des Profits unterwandert wurde. Die Politiker, die dies zugelassen haben, sind Kriminelle und haben unkalkulierbare Katastrophen, Leid und Tote zu verantworten.

Medizinische Versorgung kann und darf nicht zu Profit und Spekulation führen; Menschen aufgrund von fehlenden finanziellen Mitteln, die sie haben, oder nicht haben, davon auszuschließen ist Wahnsinn, aber es ist auch ein Bumerang aus wissenschaftlicher Sicht, weil die Medizin so keine Fortschritte machen kann. In Italien spricht man von 11 Millionen Menschen, die keinen Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung haben. Für unseren kleinen Teil leisten wir medizinische Versorgung in allen Bereichen auf gutem Niveau, kostenlos und ohne jegliche Diskriminierung. Auch in Italien eröffnen wir viele ambulante Versorgungszentren und oft ist es schwieriger, hier ordentlich zu arbeiten als in Afghanistan. Manchmal dauert es Monate, bis man eine benötigte Unterschrift bekommt und wenn wenn jemand an einer bestimmten Situation verdient, erfolgt die Unterschrift beizeiten gar nicht. Unser Engagement in Italien steigt stetig aufgrund von Bedürfnissen, die durch das System nicht befriedigt werden, ein System, ich wiederhole es, in das sich die Logik des Profits eingenistet hat.

In Ihren Krankenhäusern versorgten Sie Menschen verschiedenster Herkunft, Alters, Kultur etc. medizinisch. Was ist für Sie die Essenz des menschlichen Lebens jenseits dieser Unterschiede?

Für mich ist das verbindenden Element in der universellen Erklärung der Menschenrechte im Artikel 1 ausgedrückt: „Alle Menschen werden frei, gleich, in Würde und mit Rechten geboren“. Das ist die Basis für ein soziales Zusammenleben. Es ist eine einfache Überzeugung, ja fast banal, aber leider wird sie von vielen, die Entscheidungen treffen und Macht haben, nicht geteilt.

Übersetzung aus dem Italienischen von Evelyn Rottengatter