In folgendem Interview unterhalten wir uns mit Prof. Khallouk über sein Buch „Salam, Jerusalem“, in dem er von seiner Reise nach Israel und seinen positiven Erfahrungen des Zusammenlebens zwischen Juden und Muslimen spricht. Er zeigt uns in seinem Reisetagebuch, wie man Vorurteile durch einen radikalen monotheistischen Humanismus überwindet.

Dr. phil. Milena Rampoldi: Was bedeutet für dich der radikale ethisch-monotheistische Humanismus, der für mich das Ergebnis deiner Israel-Reise ist?

Prof. Mohammed Khallouk: Die Entscheidung, nach Israel zu reisen, ist mir keineswegs leicht gefallen. Die Prägung durch mein Aufwachsen in einem muslimischen Land und die Berichte, die ich von dort aus Medien vom israelisch-palästinensischen Konflikt aufnehmen konnte, haben bei mir einen inneren Zwiespalt entstehen lassen. Einerseits war ich durchaus neugierig, wie das Land des sogenannten „Erbfeindes“ in der Realität aussieht, andererseits hatte ich immer Skrupel, diesem „Feind“ unmittelbar gegenübertreten zu müssen und habe die Entscheidung, dorthin zu reisen, stets vor mir hergeschoben. Mein Leben in Deutschland und das konfrontiert sein mit einer anderen „fremden“ Kultur hat mir jedoch eine neue Sicht auf das Land und seine Menschen ermöglicht. Wie Levinas betonte, ermöglicht erst die Ferne, die Dinge in neuem Licht zu sehen. Dies war auch bei mir der Fall. Hinzu kamen die Erfahrungen mit jüdischen Intellektuellen wie Shimon Levy, die mir geholfen haben, meine Skrupel soweit abzubauen, dass ich meinen schon seit langem gefassten Entschluss, nach Israel zu reisen, in die Realität umsetzen konnte.

Als ich schließlich dort war und Juden wie Muslimen auf engstem Raum nebeneinander leben und als Menschen mit Herz und Seele erfahren konnte, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass unsere gemeinsame monotheistische Ethik uns durchaus ermöglicht, uns gegenseitig Wertschätzung entgegenzubringen und in Eintracht miteinander zu leben. Dass man sich gegenseitig als gleichwertige Menschen anerkennt mit den gleichberechtigten Ansprüchen und Menschenrechten. Getragen ist diese Ethik von dem Bewusstsein, dass alle Menschen gleichermaßen Geschöpfe des Einen Gottes sind, der uns allen eine Verantwortung für unsere Mitmenschen gegeben hat und für den jegliche äußeren Merkmale wie Rasse, Herkunft oder Konfession dem allgemeinen Menschsein untergeordnet sind. In diesem Sinne hat für mich auch der Satz Levinas „Der Mensch ist noch heiliger als jegliches Heilige Land“ für den Gegenübertritt zu Juden an den Heiligen Orten Jerusalems praktische Bedeutung erlangt.

Was sollte der Friede für Juden und Muslime heute in Nahost bedeuten?

Ein Friede sollte bedeuten, dass die Menschen trotz ihrer verschiedenen Religionen eine gemeinsame Zukunft haben. Es sollten keine Skrupel mehr vor den Anderen bestehen und man in der Lage sein, auf allen gesellschaftlichen Ebenen ungehindert und frei von Zwängen zusammenzuarbeiten. So ein Frieden kann jedoch nur entstehen, wenn die politischen Hindernisse dafür beseitigt werden und beide Seiten das Bewusstsein besitzen, dass ihnen gegenüber Gerechtigkeit geschehen ist. Gerechtigkeit bedeutet, dass die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern auf den Prinzipien des Völkerrechts beruhen. Israel muss dafür anerkennen, dass die Palästinenser ein eigenes Volk sind mit dem Recht auf einen eigenen Staat. Weiterhin verlangt es die seit 1967 besetzten Gebiete zu räumen und einen Staat Palästina mit Ostjerusalem als Hauptstadt zuzugestehen. Ebenso erfordert es zumindest symbolisch die Anerkennung des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge. Nicht zuletzt verlangt es, keinen Neu- und Ausbau jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten und die Räumung der bereits bestehenden Siedlungen bzw. die Annahme einer palästinensischen Staatsbürgerschaft durch die Siedler und ihre Unterordnung unter palästinensisches Staatsrecht. Im Gegenzug sind die Palästinenser und mit ihnen alle Muslime aufgerufen, Israel in den Grenzen von 1948 als jüdischen Staat anzuerkennen. Dazu gehört neben der Aufnahme politisch-diplomatischer Beziehungen jegliche Einschränkungen im ökonomischen und kulturellen Austausch aufzuheben. Letztlich sind auch die gegenseitig auferlegten Reisebeschränkungen aufzuheben, so dass Israelis ebenso die Einreise in arabische Staaten gewährleistet ist wie jeglichen Arabern und Muslimen nach Israel.

Wie wichtig ist der interreligiöse Dialog unter den „kleinen“ Leuten in der Gesellschaft für den Frieden in Nahost heute?

Der ist sehr wichtig, weil ein dauerhafter Frieden nur garantiert ist, wenn er auf Akzeptanz in der allgemeinen Bevölkerung trifft. Frieden kann nicht „von oben“ verordnet werden, sondern muss „von unten“ aus den Herzen der Menschen erwachsen. Hinzu kommt, dass Israel ein weitgehend demokratisches Gemeinwesen darstellt und die Palästinenser die Demokratie ebenfalls für sich beanspruchen. In Demokratien werden Regierungen bzw. Parlamente von Mehrheiten (und somit von den „kleinen“ Leuten) gewählt. Die politischen Verantwortungsträger können somit letztlich nur Frieden schließen, wenn sie hierfür das Mandat ihres Wahlvolkes besitzen. Zugleich sind die Eliten jedoch verpflichtet, dieses Wahlvolk über die Vorteile und Erfordernisse eines nahöstlichen Friedens aufzuklären. Leider nehmen die Eliten heutzutage ihre diesbezügliche Verantwortung nicht oder nur unzureichend wahr. Wenn sich Feindbilder in den Köpfen und Herzen beider Völker festgesetzt haben, so tragen die Eliten in Politik und Medien dafür Verantwortung, weil sie die Menschen nicht über die Anliegen und berechtigten Ansprüche des jeweils anderen Volkes aufklären, sondern stattdessen jene, die sich mit legitimen Mitteln für ihre Interessen einsetzen, allzu oft in der Öffentlichkeit als „Terroristen“ herabqualifizieren.

Was bedeutet die Gerechtigkeit im Islam und warum ist ein Frieden ohne Gerechtigkeit unmöglich?

Es wurde uns gelehrt, dass Gott eine gerechte Gemeinschaft beschützt, auch wenn sie ungläubig ist und stattdessen eine ungerechte Gemeinschaft nicht beschützt, auch wenn sie sich als muslimisch bezeichnet. Gerechtigkeit bedeutet im Islam, dass jedem Menschen als Geschöpf Gottes gleichermaßen seine individuellen Rechte zugestanden werden und der eine bzw. das eine Kollektiv nicht mehr Rechte besitzt als andere. Wenn Muslime für sich Gerechtigkeit beanspruchen, sind sie verpflichtet, diese Gerechtigkeit anderen Menschen gleichermaßen zuzugestehen. Ein Frieden, der nicht auf Gerechtigkeit basiert, bleibt ein „Papiertiger“, der bei den Menschen, die sich darin als ungerecht behandelt fühlen, keine Akzeptanz findet. Sobald jene die Macht dazu besitzen, werden sie wieder Gewalt anwenden, um die Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Die Gerechtigkeit hat im Islam einen ungeheuer hohen Stellenwert, so dass Gott sich uns Menschen gegenüber nur barmherzig zeigt, wenn wir gerecht handeln. Die Barmherzigkeit kann im Islam vielmehr erst aus der Gerechtigkeit heraus erfolgen.

Wie kann der Satz von Simon Levy wegweisend für die anderen Juden sein, die heute mit den Muslimen zusammenleben?

Der Satz Levys „Das Judentum ist meine Religion und der Islam ist meine Kultur“ ist seiner lebenslangen Erfahrung des respektvollen Miteinanders und der gegenseitigen Achtung von Juden und Muslimen in Marokko erwachsen. Im islamischen Königreich in muslimischer Umgebung war es ihm nicht nur vergönnt, ungehindert seine jüdische Religion zu praktizieren und den zivilen Bereich an jüdischen Regeln auszurichten, vielmehr wurde er in einem fast ausschließlich von Muslimen bewohnten Wahlkreis als Abgeordneter ins marokkanische Parlament gewählt. Er besaß später sogar die Gelegenheit, in Casablanca das erste und bislang einzige jüdische Museum mit staatlicher Unterstützung zu gründen und konnte erleben, wie jüdische Friedhöfe und Kulturdenkmäler mit Geldern des marokkanischen Staates erhalten wurden. Eine von islamischer Kultur geprägte Gesellschaft war es letztlich, die ihm die Möglichkeit bot, die Geschichte des Judentums mit seiner wissenschaftlichen Forschung für künftige Generationen lebendig zu halten.

Der Satz Levys sollte für alle Juden in muslimischer Umgebung als Motto dienen, die es ihnen erlaubt, die Gesetze und Spielregeln der islamisch geprägten Kultur als „eigene Normen“ anzuerkennen und gleichzeitig ihrem jüdischen Glauben ungehindert treu zu bleiben. Ganz konkret könnte der Satz für diejenigen Juden von Bedeutung sein, die in einem künftigen Staat Palästina als Minorität zu leben bereit sind. Aber sogar für die jüdische Mehrheitsbevölkerung im Staat Israel erlangt Levys Motto Relevanz, sofern sich dieser Staat – wie es der frühere marokkanische König Hassan II. schon in den sechziger Jahren gefordert hat- sich als Teil eines gemeinsamen nah- und mittelöstlichen Staatenbundes versteht und der Arabischen Liga beitritt. Als Mitglied eines gemeinsamen jüdisch-muslimischen Vorderen Orients gehörte man somit dem Islam als Kultur an, das Judentum behielte man jedoch als Religion. Nicht zuletzt erlangt Levys Satz auch für diejenigen Juden Bedeutung, die sich ihrer orientalischen Wurzeln bewusst werden und vielleicht eines Tages aus der Emigration in Israel, Europa oder Amerika beabsichtigen, in ihre arabisch-islamischen Ursprungsländer zurückzukehren.


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