Es hat mich sehr gefreut, die Gelegenheit zu haben, eine wundervolle Künstlerin wie Nefissa Labidi interviewen zu dürfen. Sie ist Holzbildhauerin und Dichterin. Ursprünglich kommt sie aus einer berberischen Familie aus Tunesien. Ihr Wesen hat sie in der Kunst und Schnitzerei gefunden. Neben diesem Handwerk, da sie von einem italienischen Bildhauer erlernt hat und ihrer Leidenschaft für den interkulturellen Dialog, hat sie aus ihrer Herkunft einen Kampf um die Menschenrechte aller auch so unterschiedlichen Völker gemacht.

Nefissa Labidi wird 1961 in Tunesien in eine berberische Familie geboren. Als neunjähriges Kind kommt sie nach Italien, wo sie ihre Kindheit in der lebensfrohen Toskana, in Florenz, verbringt. Die Jahre der Demos von 1968 haben sie dabei unterstützt, ihren kämpferischen Charakter zu formen, den sie sei es in ihrem Alltagsleben als auch in ihrem Aktivismus zum Ausdruck bringt. Sie bricht ihre klassischen Studien ab. Während ihres Studiums tritt sie in Kontakt mit vielen ausländischen Studenten aus Palästina, Afghanistan und Griechenland und entwickelt ihr Interesse an den Menschenrechten. Eine Zeitlang lebt sie in Rom. Sie reist oft nach Frankreich, um dort als Saisonsarbeiterin bei der Traubenernte ihr Brot zu verdienen. Ihr künstlerischer Verlauf als Holzschnitzerin beginnt vor ungefähr 20 Jahren in Umbrien, wo sie mit ihrem Kind und ihrem Lebensgefährten hinzieht. In Umbrien lernt sie den Bildhauer Daniele Parasecolo kennen, den sie einen freigiebigen Freund nennt, der ihr diese Kunst beibringt. Diese Art handwerklicher Arbeit verlangt viel Aufmerksamkeit und eine extreme Geduld ab. Nefissa spricht in diesem Zusammenhang von der Kunst der drei P, Pratica, Passione e Pazienza (Übung, Leidenschaft und Geduld).

Antonietta Chiodo: Wie sehr hat deine berberische, nordafrikanische Kultur deine Kunst beeinflusst?

Nefissa: Ich fühle mich, als befände ich mich in einem Raum zwischen verschiedenen Kulturen. Ich bin ein Mittelmeerkind und ein Kind aller Völker dieses Meeres. Ich bin stolz auf meine berberisch-tunesische Herkunft. Meine Welt ist eine Welt, in der die Frauen die Macht haben, in der sie als Handwerkerinnen und Heilerinnen tätig sind und in der sie Geschichten aus der Vergangenheit erzählen, Stoffe bemalen, Gegenstände aus Metall und Ton herstellen und mit natürlichen Mitteln heilen. Seit meiner Kindheit habe ich meine Großmutter und meine Mutter immer sehr bewundert. Und heute erinnere ich mich mit Reife und Stolz an sie. Ich beobachtete sie, während sie den Minztee kochten und den Herd schürten, um den Couscous zuzubereiten und schöne Gegenstände erzeugten. Ich glaube, meine Handfertigkeit von ihnen geerbt zu haben. Ich habe es immer schon geliebt, etwas zu erbauen, ob nun mit Materialien oder mit Worten!

nefissa labidiWas fühlst du, wenn du ein Werk hervorbringst?

Wenn ich etwas erschaffe, fühle ich mich, als würde ich meditieren, wenn ich mit dem Holz in Kontakt trete. Ich suche nach der richtigen Nuance, nach einem Knotenpunkt und nach dem passenden Farbton. Es gefällt mir wirklich, dieses Werk Teil für Teil in seiner Entstehung zu erleben. Oft dauert es ganze Minuten, bis ich das richtige Verbindungsstück finde. Da verspüre ich dann ein wunderbares Gefühl, wenn ich das Werk fertigstelle. Ich schleife und poliere, und das Ganze offenbart sich mir in seiner Dreidimensionalität und Farbenpracht! Ich verweile Stunden lang vor meinem Werk und bewundere es unermüdlich. Ich sehe das Werk an, als wäre ich ein Zuschauer und versuche mir vorzustellen, welches Gefühl es in einer fremden Person erwecken könnte!

Wie wichtig sind die Gefühle für dich bei deiner Arbeit?

Die Gefühle bedeuten für mich das Leben selbst, im Guten wie auch im Schlechten. Was die Angehörigkeit zu einer traditionellen Religion angeht, sehe ich mich als Atheistin, aber ich glaube an die göttliche Sensibilität. Die Schönheit berührt mich: sie befindet sich in der Form eines Baums, im Lächeln eines Kindes und in jedem Menschen, der Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Liebe für das Beobachtete ausstrahlt. Ich lächle oft, während ich gehe und sehe den Personen, die mir gefallen, in die Augen. Von den Beziehungen zu den Männern bin ich enttäuscht und verbittert, aber ich falle immer noch rein, vor allem wegen des neuen Gefühls, in dem alle das Beste von sich geben!

Glaubst du, dass die Kunst den Frieden fördern und die Kulturen in Gleichheit vereinen kann?

Davon bin ich felsenfest überzeugt. Die Kunst bedeutet Kultur, und die Verbreitung der Kunst überwindet jegliche Feindseligkeit. Ich habe mir oft schon gewünscht, eine eigene Ausstellung zu organisieren, in die ich auch die “Politik” einbeziehe, um die unwissenden Besucher über die Weltereignisse zu informieren. Ich schreibe und spreche auch gerne. Und ich habe einen sehr penetranten Ton, wenn ich das zum Ausdruck bringe, was mich wirklich berührt.

nefissa 4Könntest du als Frau ohne deine Kunst leben?

Das wäre unmöglich, da ich in meiner Kunst völlig aufgehe! Unter Kunst versteht ich aber alles… wenn ich koche oder esse, liebe ich es, die Farbtöne und die Zusammenstellung des Gerichtes zu beobachten. Die Kunst sehe ich auch in der Verkümmerung einer Person oder einer Struktur. Ich finde sie auch im Leid wieder. Denn es wäre zu einfach, sie einzig und allein in der Freude zu finden. Die Kunst bedeutet für mich auch die Erzählung über unsere Kindheit. Und da hatte ich das Glück, eine tunesische Traumkindheit zu leben.

Hier im Folgenden noch ein Gedicht, das Nefissa Labidi für den kleinen Aylan Al-Kurdi, das syrische Flüchtlingskind, das tot an die türkische Küste von Bodrum gespült wurde und Millionen von Menschen das Herz gebrochen hat, verfasste:

aylan kurdi„Aylan Al-Kurdi“

Aylan Al-Kurdi

Du hast einen Namen, kleiner unglücklicher Junge,

Dir blieb gerade noch die Zeit, geboren zu werden und ins Leben zu gehen

Und diese Welt hat dich umgebracht

Zuerst mit den Bomben

Und dann im Meer

Die Welt hat dich umgebracht

Mit ihrer scharfen Gleichgültigkeit

Hättest du überlebt, wärst du angekommen,

so hätten dir andere große,

verfluchte Feinde aufgelauert,

die auch Väter (und noch schlimmer) Mütter sind,

sie hätten dich beleidigt,

und dir vorgeworfen, du hättest ihnen die Arbeit weggenommen,

kleiner, unschuldiger Junge.

Was wusstest du schon von der Bösartigkeit

Vom Neid

Vom Rassismus

Das Wasser drang dir in die „Kehle“

Ohne dass dir die Zeit blieb

für einen

HILFESCHREI

Den niemand hören wollte!

Du hast die Augen verschlossen

Du wolltest noch spielen

Aber du bist nicht mehr unter uns

Mögest du in allen Kindern unserer Zukunft weiterleben

Ich hätte dich lieber unter den Lebenden gefeiert

Jahr für Jahr

Hätte gerne deine Haare wachsen sehen

Aber du bist nicht mehr unter uns

Aber du bist in allen Kindern dieser Welt,

die noch nicht geboren sind

Die Welt gehört dir, die Welt gehört euch

Aus Recht

Auf Menschlichkeit

(Nefissa Labidi) 5. September 2015

von Antonietta Chiodo e.V., Promosaik Italien, deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V.

Der Originalartikel kann hier besucht werden