Vor 30 Jahren geschah in Indien die schwerste Chemiekatastrophe aller Zeiten. Am 3. Dezember 1984 ereignete sich im indischen Bhopal, der Hauptstadt des Bundesstaats Madhya Pradesh, eine der bisher schlimmsten Chemiekatastrophen, bei der viele Tausende Menschen an ihren unmittelbaren Folgen starben. In einem Werk des US-Chemiekonzerns Union Carbide Corporation, früher Dow Chemical, traten aufgrund technischer Pannen mehrere Tonnen giftiger Stoffe in die Atmosphäre. Bis heute leiden die Betroffenen und Überlebenden, doch weder der indische Staat noch US-Konzern übernehmen ihre Verantwortung.

In 2010 wurden sieben indische Manager von Union Carbide vor Gericht zu Haftstrafen verurteilt, anschließend aber gegen Kaution freigelassen. Der Chemiekonzern Union Carbide wurde 2001 vom heutigen Dow Chemical Konzern aufgekauft. Nach der Tragödie argumentiert das Unternehmen mit Sitz im US-Bundesstaat Michigan, dass das Unternehmen damals in indischer Hand war. „Die Fabrik ist von Indern in Indien errichtet und betrieben worden“, sagt der Unternehmenssprecher Tomm F. Sprick. Ein „US-Gerichte“ hätten das bestätigt. Demzufolge, so Sprick, liege auch die Verantwortung bei den indischen Behörden. Damit wird sich das Unternehmen nicht überall durchsetzen können. Immer noch sind einige Verfahren vor indischen und US-Gerichten anhängig. Von der damaligen Muttergesellschaft in den USA wurde bis heute niemand zur Rechenschaft gezogen. Immerhin stand bis vor Kurzem auch der damalige Vorstandschef, Warren Anderson, auf der Liste der Angeklagten. Aus Sicht indischer Gerichte galt er seit 1984 als flüchtig. Doch nie wieder betrat er indischen Boden. Vor einigen Wochen verstarb er im Alter von 92 Jahren.

Vor allem aber ist und bleibt Bhopal ein schmutziges Imageproblem für den zweitgrößten Chemiekonzern der Welt. Jahrelang ließ er heimlich Aktivisten überwachen, die immer wieder vor der indischen Konzernzentrale protestieren und dabei Bilder von Leichenbergen aus der Nacht des Schreckens vor 30 Jahren in die Kameras halten.

Im Februar 2012 begann WikiLeaks mit der Veröffentlichung von mehr als fünf Millionen E-Mails des in Texas beheimateten Internetunternehmens Stratfor. Diese E-Mails zeigten unter anderem, dass Dow Chemical damals Stratfor beauftragt hat, die Kampagne zur Ermittlung der Katastrophe zu behindern sowie die Aktivisten von Bhopal Medical Appeal auszuspionieren. „In der Tat hatten wir lange vermutet, dass man uns zu einer Art Überwachung unterzogen hat, aber es war das erste Mal, dass wir konkrete Beweise bekamen, dank der Veröffentlichungen dieser E-Mails. Dieser unerwartete Bonus war zum richtigen Zeitpunkt veröffentlicht worden, als unsere Kampagne gegen Dow Chemical als Sponsor der Olympischen Spiele in London startete und für die Öffentlichkeit offenbart wurde. Es gab uns für die Gerechtigkeit zu kämpfen, einen enormen Auftrieb.“

Jeremy Hammond war einer unter denjenigen, der durch das „Hacken“ der E-Mails über die Überwachung der Aktivisten durch Stratfor ein massives, persönliches Risiko einging, in dem er die Mitteilungen preisgab. Am 15. November letzten Jahres wurde er zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt, u.a. dafür, dass er die E-Mails über die Überwachung der Aktivisten durch Stratfor „hackte“. Aus seiner US-Gefängniszelle in Kentucky richtete er an die Überlebenden und Betroffenen der Bhopal Gaskatastrophe in Indien einen solidarischen Gruß aus. „Der Kampf um die Gerechtigkeit gegen den Dow Chemical geht weiter. Dutzende der Aktivistengruppe wurden vom Chemiekonzern verklagt. Anstatt es nicht noch schlimmer zu machen, solle Dow Chemical endlich seine Verantwortung übernehmen. Die Profitgier des multinationalen Konzerns zeige, wie sie die Gerichte missbrauchen und ihren Einfluss auf internationale Abkommen schüren, so dass sie weiterhin keine verbesserten Arbeitsbedingungen, faire Löhne oder Umweltschutzkriterien einhalten müssen. Wir müssen sie weiterhin entlarven und mit ihrer Schuld konfrontieren.“

Da entlarvt ein junger Mann, Jeremy Hammond, der noch nicht einmal das dreißigste Lebensjahr erreicht hat, diese digitale Überwachung der Aktivisten durch Stratfor und geht für diese Gerechtigkeit viele Jahre in dem Land ins Gefängnis, wo die eigentlichen Verantwortlichen der Umweltkatastrophe in Freiheit sind und sich noch die Profite einstreichen.

Scheinbar behauptet sich Dow Chemical nur mit Mühe auf dem vielversprechenden indischen Markt. Offenbar ein Grund dafür, dass jüngst einige Aktionäre die Unternehmensführung dazu aufgerufen haben, die Haltung zu überdenken und Verantwortung für das schlimmste Chemieunglück der Geschichte zu übernehmen. Viele bezweifeln, dass diese Forderungen auch nach dem Jahrestag der Katastrophe zu hören sein werden.

Die Schätzungen der Opferzahlen reichen von 3.800 bis 25.000 Toten durch direkten Kontakt mit der Gaswolke sowie bis zu 500.000 Verletzten, die mitunter bis heute unter den Folgen des Unfalls leiden. Die zum Teil großen Abweichungen der Schätzungen erklären sich vor allem aus der ungenauen Kenntnis über die Zahl der Einwohner des betroffenen Elendsviertels in dieser Zeit. Es lebten damals etwa 100.000 Menschen in einem Radius von einem Kilometer rund um die Pestizidfabrik. Tausende erblindeten, Unzählige erlitten Hirnschäden, Lähmungen, Lungenödeme, Herz-, Magen-, Nieren-, Leberleiden und Unfruchtbarkeit. Später kamen Fehlbildungen an Neugeborenen und Wachstumsstörungen bei heranwachsenden Kindern hinzu.

Für die Sicherheitsmängel in Bhopal und die daraus resultierenden Folgen wurde bis 2010 niemand persönlich vor der Justiz zur Verantwortung gezogen. Der damalige Vorstandsvorsitzende von Union Carbide, Warren Anderson, der nach der Giftgaskatastrophe aus den USA nach Indien geflogen und unmittelbar nach seiner Ankunft verhaftet worden war, kam gegen eine Kaution von 2.000 Dollar frei und entzog sich einer möglichen Bestrafung durch Flucht in die USA.

Am 18. September 2014 ist in den USA der Kinofilm „Bhopal: A Prayer for Rain“ gestartet, der sich mit Katastrophe von Bhopal, die zwischen dem 2. und 3. Dezember 1984 in Indien stattgefunden hat, auseinandersetzt.